Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, bei der Gedenkfeier des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern



anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des KZ Dachau, 3. Mai 2015

Es ist uns, dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, eine besondere Freude, dass Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, auch an der Gedenkfeier am Jüdischen Mahnmal teilnehmen. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!

Ebenso möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meinen Dank aussprechen, dass Sie heute hier sein können.

Ich denke aber, Sie werden es verstehen, dass mir bei einer Gedenkfeier wie der heutigen einige andere Gäste noch mehr am Herzen liegen:

Ich möchte Sie, die Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau, ganz besonders herzlich begrüßen!

Es ist für uns eine große Freude und Ehre, mit Ihnen gemeinsam an die Befreiung vor 70 Jahren zu erinnern!

Stellvertretend möchte ich Max Mannheimer nennen. Wie kaum ein anderer ist Max Mannheimer unermüdlich als Zeitzeuge unterwegs, um von der Schoa zu berichten, authentisch und persönlich.

Aber Sie alle haben sich trotz Ihres hohen Alters auf den Weg hierher gemacht. Sie nehmen dafür Strapazen auf sich. Sie scheuen die Konfrontation mit diesem Ort nicht.

Dafür möchte ich Ihnen meinen tiefen Respekt und Dank aussprechen!

Ihre Erinnerungen sind heute kostbarer denn je. Denn das Geschehen rückt in immer weitere Ferne. Für viele junge Menschen sind der Nationalsozialismus und die Schoa nur noch geschichtliche Daten, ohne persönlichen Bezug. Es ist mittlerweile die Geschichte ihrer Ur- oder sogar Ur-Urgroßeltern.

Die Distanz wächst, und die Empathie sinkt.

Nicht jedoch, wenn man diesen Ort betritt.

Wer die Weite sieht, wo einst die Häftlingsbaracken standen, wer in der Ausstellung Bilder betrachtet von den Menschenmassen, die hier zusammengepfercht waren, von total unterernährten Menschen, die schwerste körperliche Arbeit verrichten mussten – für den erhalten die Zahlen plötzlich ein Gesicht.

41 500 Menschen wurden in Dachau ermordet. Dieses, in Anführungszeichen, „Muster-KZ“ der Nazis existierte am längsten von allen, die kompletten zwölf Jahre. Hier wurden viele politische Gefangene, vor allem aber Tausende von Juden umgebracht.

Allein nach den Novemberpogromen von 1938 wurden 11 000 Juden nach Dachau deportiert. Noch 1944 verschleppte die SS 35 000 Juden nach Dachau und in seine Außenlager. Die wenigsten überlebten die Qualen. Insgesamt waren im KZ Dachau mehr als 200 000 Menschen aus 30 Staaten inhaftiert.

Bei der Befreiung am 29. April 1945 waren die Soldaten der U. S. Army erschüttert über das, was sie vorfanden. William Cowling, Oberstleutnant der US-Armee, beschrieb seine Eindrücke in einem Brief an seinen Sohn:

„Dann kamen wir in ein Gebäude, in dem 50 Mann in einen Raum gesperrt waren, der so groß war wie unsere Küche. Viele der Toten und der noch lebenden Menschen trugen auf ihren Körpern Spuren von schrecklichen Schlägen und Folter. Es ist unfassbar, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Ein geschwächter Mann kam auf mich zu. Er sprach perfekt Englisch und ich fragte ihn, ob er Amerikaner sei. ,Nein‘, sagte er, ,jüdisch.‘ Er sei einer der wenigen, die noch übrig seien. Tausende seien getötet worden. Seit sechs Jahren war er in Dachau. Er war 28 Jahre alt und sah aus wie ein 60-Jähriger.“

Sehr geehrte Damen und Herren, für uns Nachgeborene wird das Grauen in den Konzentrationslagern nie wirklich vorstellbar sein. Doch wenn wir den Menschen zuhören, die all das durchlitten und überlebt haben, wenn wir solche Berichte lesen, vor allem aber wenn wir die authentischen Orte besuchen, bekommen wir eine Ahnung, wie es gewesen ist.

Deshalb ist es mir so wichtig, dass Schüler aller weiterführenden Schularten einmal eine KZ-Gedenkstätte besuchen. Auch für die Abschlussklassen der Mittelschulen sollte ein solcher Besuch verpflichtend sein. Ich hoffe, dass mein Vorschlag im Bayerischen Landtag noch einmal wohlwollend geprüft und auch in anderen Bundesländern aufgegriffen wird.

Die kostbare Erinnerung der Menschen, die dabei gewesen sind, müssen wir bewahren. Wir sollten authentische Berichte über diese Zeit mithilfe von Medien speichern und Jugendlichen zugänglich machen, in den Gedenkstätten und in den Schulen.

Die direkte Begegnung mit den Überlebenden und die direkte Begegnung mit den historischen Orten kann auch den jüngeren Generationen verdeutlichen: Ihr seid zwar nicht schuldig, aber ihr tragt Verantwortung!

Wir tragen Verantwortung für die Menschen, die in den Lagern gelitten haben. Dass sie einen würdigen Lebensabend verbringen können, muss unser Herzensanliegen sein!

Wir alle, die gesamte Gesellschaft, tragen aber vor allem Verantwortung für das „Nie wieder!“

Nie wieder dürfen sich diese Verbrechen wiederholen.

Die Häftlinge von Dachau appellierten nach ihrer Befreiung an die Lebenden, dass sie Frieden und Freiheit in Ehrfurcht vor der Würde des Menschen verteidigen sollten. So lautet die Inschrift am Internationalen Mahnmal: „In Ehrfurcht vor der Würde des Menschen“.

Wenn ich darauf blicke, wie heute einige Bürger gegen Flüchtlinge hetzen, oder wie abwertend über Juden gesprochen wird, dann frage ich mich: Wie sehr ist das hohe Gut der Menschenwürde eigentlich noch in den Köpfen verankert? Ist es noch Allgemeingut, dass jedem Menschen eine Würde zukommt?

Nie wieder – das heißt doch auch: Nie wieder dürfen wir akzeptieren, dass eine gesellschaftliche Gruppe stigmatisiert und ausgegrenzt wird!

Nie wieder dürfen rassistische oder antisemitische Sprüche salonfähig werden!

Nie wieder darf Gewalt ausgeübt werden, um ein politisches Ziel zu erreichen!

Deutschland hat so viel Unheil über die Welt gebracht. Es steht bei so vielen Ländern tief in der Schuld – wir sind das letzte Land, das es sich leisten kann, Flüchtlinge und Verfolgte abzulehnen!

Wenn ich sehe, dass in Dresden immerhin 10 000 Menschen einem Islamhasser und Rechtspopulisten wie Geert Wilders zujubeln, wird mir übel.

Die steigenden Flüchtlingszahlen und die Bedrohung durch islamistische Terroristen sind kein Grund, ein christlich-jüdisches Abendland ohne Muslime zu proklamieren.

Und kein Grund, Politikern mit Mord zu drohen.

Und erst recht gibt es überhaupt keine Rechtfertigung dafür, Asylbewerberheime anzuzünden.

Sehr geehrte Damen und Herren: „In Ehrfurcht vor der Würde des Menschen“ – die Häftlinge von Dachau wussten, wie schnell die menschliche Zivilisation in Trümmern liegen kann. Wie aus einem angeblichen Kulturvolk ein Volk der Barbaren wurde.

Werte wie Toleranz und Respekt, Demut und Verantwortung müssen wir immer wieder neu einüben und verteidigen.

Auch aus diesem Grund sind Orte wie dieser hier so wichtig. Sie führen den Besuchern nicht nur die menschlichen Abgründe vor Augen. Sie leisten eine überaus wichtige Bildungsarbeit.

Deshalb möchte ich heute auch einmal jenen Menschen danken, die in dieser Gedenkstätte arbeiten, die Programme für Schulklassen entwickeln, die Menschen durch die Ausstellungen führen und die das Archiv verwalten. Sie leisten einen ungeheuer wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft!

Denn immer wieder erleben wir Menschen, die eben nicht den berühmten Schlussstrich ziehen wollen. Sondern die sich engagieren.

Es sind diese Menschen, die mir Zuversicht geben.

Diese Menschen, die sich für unsere demokratische Gesellschaft einsetzen, brauchen politische und finanzielle Unterstützung. Es ist zu begrüßen, dass der Bund die Programme gegen Rechtsextremismus und Rassismus besser ausgestattet hat und zu einer längerfristigen Förderung übergegangen ist.

Denn wir kennen die Vorfälle von Tröglitz oder – um ein Beispiel aus der näheren Umgebung zu wählen – von Stammheim im Landkreis Schweinfurt, wo die Neonazi-Partei „Die Rechte“ im früheren Gasthof ihre Parteizentrale einrichten will.

Diese Beispiele zeigen uns: Die Rechtsextremen waren nie verschwunden, nur weil die Aufmerksamkeit der Medien weg war.

Angesichts der gestiegenen Zahlen von Übergriffen auf Flüchtlinge und Anschlägen auf Asylbewerberheime sollten die finanziellen Mittel für die Programme im nächsten Jahr noch einmal erhöht werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die jüdische Gemeinschaft, sind in den vergangenen Monaten häufig gefragt worden, ob wir weiter in Deutschland leben wollen. Und dass wir dies bejahen können, das hat auch mit diesen Menschen zu tun, die sich für ein tolerantes Miteinander in unserer Gesellschaft einsetzen.

Das hat aber auch, so widersprüchlich das klingen mag, etwas mit Israel zu tun. In dem Bewusstsein, dass Israel immer eine Zufluchtsstätte für uns ist, können wir uns in Europa selbstbewusster behaupten. Und deshalb lässt uns nicht gleichgültig, mit welch kalter Ablehnung viele Deutsche über Israel sprechen.

Der alte Antisemitismus, der nach dem Krieg weiter vorhanden war, verkleidet sich heutzutage gerne als Kritik an Israel. Gaza wird mit einem Ghetto verglichen, den Israelis wird Völkermord vorgeworfen. Israel und den USA wird eine Machtfülle unterstellt, die an den alten Vorwurf der „jüdischen Weltverschwörung“ erinnert.

Es sind alte antisemitische Stereotype, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Denn kein Mensch wird als Antisemit geboren!

Es ist die Aufgabe der Politik, der Bildung, der Medien, ja der gesamten Gesellschaft, diesen Zerrbildern entgegenzuwirken!

Judenfeindlichkeit – egal, in welchem Gewand sie daherkommt – darf nie wieder gleichgültig hingenommen werden!

Hier, an diesem Ort, sehen wir, wo sie enden kann.

„Es ist unfassbar, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können“, schrieb der amerikanische Soldat.

Wir haben uns hier vor dem jüdischen Mahnmal versammelt, gestaltet von dem Architekten Hermann Zvi Guttmann. Eine Rampe führt in die schwarze Tiefe. In den Abgrund. Den Abgrund, in den auch der amerikanische Soldat bei der Befreiung blickte.

Doch am tiefsten Punkt des Mahnmals dringt Licht durch die Decke. Und im Innern leuchtet das Ner Tamid, das Ewige Licht.

Die Nazis haben sechs Millionen Juden vernichtet.

Aber nicht das Judentum.

Unser Glaube, unsere Kultur, unsere Traditionen waren stärker.

Das Ewige Licht leuchtet weiter.

In unseren Synagogen. In diesem Mahnmal. In unseren Herzen.

Es leuchtet für die Toten, die wir nie vergessen werden.

Es leuchtet für die Lebenden.

Und es leuchtet, wenn wir füreinander da sind.

Ich danke Ihnen!

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