Neujahrsempfang des Wirtschaftsclubs



Vortrag des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, beim Neujahrsempfang des Wirtschaftsclubs Rhein-Main, 10.2.2020, Frankfurt/M.

Wie es sich für einen Neujahrsempfang gehört, möchte ich Ihnen zunächst ein gutes und erfolgreiches neues Jahr wünschen – auch wenn dieses Jahr schon ein Stück vorangeschritten ist!

2020 ist ein wichtiges Jahr – ein Gedenkjahr. Es hat in gewisser Hinsicht erst Ende Januar begonnen, nämlich rund um den 27. Januar, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, dem Tag, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt hat, auf Anregung übrigens von Ignatz Bubis.

Ich erwähne das hier, weil dieser Gedenktag nie nur die jüdischen Opfer im Blick hatte, sondern alle. Uns als Zentralrat der Juden ist es bis heute ein Anliegen, dass die anderen Opfergruppen nicht vergessen werden. Daher haben wir es auch begrüßt, als einmal an dem Gedenktag ein Vertreter der Sinti und Roma im Bundestag gesprochen hat, und in einem anderen Jahr an die Euthanasie-Opfer erinnert wurde.

Zum 75. Jahrestag gab es sehr große Gedenkfeiern in Yad Vashem in Jerusalem und in Auschwitz. Das halte ich nicht nur aus historischen Gründen für berechtigt, sondern auch wegen der politischen Bedeutung, die die Erinnerung an die Schoa heute für unsere Gesellschaft hat.

Die Bedeutung ist so gewachsen, weil der Antisemitismus in unserem Land und in Europa ebenfalls wieder wächst. Und damit bin ich beim Thema meines Vortrags angekommen:

 „Antisemitismus gestern und heute. Welche neuen Herausforderungen stellen sich für ein altes Problem?“

Da Sie im Gegensatz zu mir glücklicherweise nicht gezwungen sind, sich dauernd mit diesem Thema zu beschäftigen, möchte ich zur Einleitung mit etwas Theorie einsteigen, nämlich der Definition und den Formen von Antisemitismus,

wobei ich auch einige konkrete Beispiele nennen werde, wo sich dieser Antisemitismus wiederfindet,

um schließlich Ansätze zu präsentieren, wie wir den Antisemitismus bekämpfen können.

Denn wenn wir dieses Gedenkjahr beenden müssten mit der bitteren Erkenntnis:

Der Antisemitismus wächst und wir können sowieso nichts tun – dann wäre dies eine Kapitulation.

Das Deutsche Reich musste vor 75 Jahren bedingungslos kapitulieren und wurde von den Alliierten befreit. Dafür bin ich noch heute dankbar.

Wir werden jedoch nicht kapitulieren vor den Spätfolgen des uralten Antijudaismus und des rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten.

Verehrte Damen und Herren,

vor knapp drei Jahren – und das scheint schon wieder fast vergessen zu sein – hat der vom Bundestag berufene Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus seinen Bericht vorgelegt. Diesen Bericht empfehle ich bis heute zur Lektüre. Er hat nichts an Aktualität verloren und bietet eine sehr fundierte Analyse.

In diesem Bericht nehmen sich die Experten viel Raum dafür, Antisemitismus zu definieren. Denn heutzutage begegnet er uns in so vielen Formen, dass eine Definition wichtig ist als Orientierungshilfe.

Die Bundesregierung sowie einzelne Bundesländer haben sich mittlerweile die Beschreibung zu Eigen gemacht, die in der OSZE entwickelt wurde und die 2016 von der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken, der 31 Staaten angehören, angenommen wurde. Sie lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

Die institutionelle Annahme dieser Definition ist wichtig, denn wir können Antisemitismus nur dann wirksam bekämpfen, wenn wir uns einig sind, was Antisemitismus ist.

Das zeigt uns Großbritannien. Seitdem das Land diese Definition der Holocaust Gedenkallianz formell angenommen hat, lässt sich dort eine höhere Sensibilität in der Erfassung antisemitischer Straftaten feststellen.

Auf Basis dieser Definition lassen sich unterschiedliche Formen von Antisemitismus festmachen. Formen übrigens, die gestern wie heute verbreitet waren und sind.

Wissenschaftler sehen zum einen den traditionellen Antisemitismus, der sich als religiöse, politische, soziale oder rassistische Judenfeindschaft ausdrücken kann. Das finden Sie wieder, wenn auf Demonstrationen Juden als Kindermörder bezeichnet werden. Oder wenn von der jüdischen Weltverschwörung die Rede ist, die Antisemiten heutzutage gerne an Figuren wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder dem Investor George Soros festmachen.

Daneben gibt es den sogenannten sekundären Antisemitismus, der sich an die Schoa anknüpft. Dann wird Juden vorgeworfen, sie zögen Vorteile aus der Schoa, zum Beispiel durch Entschädigungsgelder oder sie setzten Nicht-Juden moralisch unter Druck. Der Satz des israelischen Psychologen Zvi Rex ist in diesem Zusammenhang berühmt geworden: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“

Und schließlich treffen wir auf israelbezogenen Antisemitismus. Dabei wird Israel gesagt, aber Juden sind gemeint. Diese Form ist anzutreffen bei der Boykottbewegung BDS. Die BDS-Bewegung ruft nicht nur dazu auf, israelische Waren aus bestimmten Gebieten nicht zu kaufen, sondern sie agitiert gegen Festivals, wenn sie von der israelischen Regierung unterstützt werden, sie lehnt Fördermittel für israelische Wissenschaftler ab, sie fordert, dass alle palästinensischen Flüchtlinge und deren Nachkommen nach Israel zurückkehren können.

Das, meine Damen und Herren, wäre das Ende des jüdischen Staates. Damit wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt und das ist Antisemitismus.

Ebenso sehen wir israelbezogenen Antisemitismus, wenn Kuwait Israelis die Einreise verweigert und sich daher Kuwait Airlines wiederum weigert, einen israelischen Passagier von Frankfurt nach Bangkok zu befördern.

In den israelbezogenen Antisemitismus mischen sich zudem die anderen Erscheinungsformen hinein: Wenn der Gaza-Streifen mit dem Warschauer Ghetto verglichen wird und die Aussage folgt, was die Israelis mit den Palästinensern machten sei auch nichts Anderes als das, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten, dann ist dies ein sekundärer und zugleich israelbezogener Antisemitismus.

Wenn Palästinenserpräsident Abbas - unwidersprochen – vor dem Europa-Parlament behauptet, Rabbiner hätten angewiesen, das Trinkwasser für Palästinenser zu verunreinigen, findet sich darin das mittelalterliche antijudaistische Vorurteil der Juden als Brunnenvergifter wieder, also der traditionelle Antisemitismus.

Ich vermute, dass Sie jüngst mit Richard C. Schneider in Vorbereitung auf Ihre Israel-Reise über ähnliche Beispiele debattiert haben. Es freut mich sehr, dass der Wirtschaftsclub sich so intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzt. Wer von Ihnen noch nie in Israel war, wird feststellen, dass dort nicht nur das Essen extrem lecker schmeckt, sondern auch, dass sich der Nahostkonflikt nicht mit einem simplen Schwarz-Weiß-Muster erklären lässt. Plumpe Schuldzuweisungen helfen auf dem Weg zu einer Lösung dieses Konflikts keinen Schritt weiter.

Es ist anstrengend, sich auf diese Gemengelage einzulassen. Und es ehrt Sie, dass Sie sich diese Mühe machen. Das steht der deutschen Wirtschaft gut zu Gesicht!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mit meinem etwas akademischen Auseinanderpflücken des Phänomens Antisemitismus wollte ich Sie nicht langweilen. Ich halte es jedoch für sehr wichtig, diese Erscheinungsformen zu kennen. Denn Antisemitismus zieht sich gerne ein Deckmäntelchen über, um unerkannt zu bleiben. Und viel zu häufig gelingt das auch.

Der Unabhängige Expertenkreis hat für seinen Bericht auch Befragungen unter Juden in Deutschland vorgenommen. Viele Juden haben in dieser Umfrage berichtet, dass sie zum Beispiel ständig verantwortlich gemacht werden für die israelische Politik oder gleich als Vertreter Israels gesehen werden. Sie werden nicht als Deutsche wahrgenommen. Es findet eine soziale Exklusion statt.

Und das haben wir Juden schon einmal erlebt. In unseren Familien spielen die Geschichten von Ausgrenzung, Flucht und Verfolgung bis zur Ermordung nach wie vor eine große Rolle. Unsere Sensoren für diese Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Ihr“ sind daher sehr ausgeprägt. Diese Unterscheidung ist ein solches Deckmäntelchen, unter dem Antisemitismus bis in die Mitte unserer Gesellschaft vorgedrungen ist bzw. dort nie verschwunden war.

Robert Habeck, der Vorsitzende der Grünen, hat genau diese Unterscheidung in einer Grundsatzrede beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden analysiert. Im Dezember in Berlin sagte er:

Ich zitiere:

Es ist „umso schlimmer und umso bedrückender, (…) dass es eine Teilung in Ihr und Wir gibt. Und ehrlicherweise, das hätte niemals passieren dürfen. (Das) (…) fordert ein Schuldbekenntnis meiner politischen Klasse. (…) Eine Teilung von jüdischem Leben und nicht-jüdischem Leben in Deutschland ist der erste Denkfehler, der nicht einreißen darf. Es gehört zum Wir dieses Landes, dass alle Religionen, dass alle Glaubensausübungen geschützt sind und praktiziert werden dürfen. Und das schließt explizit (…) das jüdische Leben in Deutschland mit ein. Das ist Staatsmoment dieses Landes und es ist eine Schande für diejenigen, die diesen Staat vertreten, wenn Juden und Jüdinnen sich nicht als normalen Teil des Wir in Deutschland begreifen können.“

Zitat-Ende

Meine Damen und Herren,

diese Ausgrenzung findet sich ganz massiv im Internet wieder. Was früher ein Tabu war, wird heute ausgesprochen, und zwar vor allem in den sozialen Netzwerken. Vor knapp zwei Jahren hat eine Studie der Technischen Universität Berlin gezeigt, dass sich antisemitische Äußerungen im Netz seit 2007 vervierfacht haben. Alte judenfeindliche Stereotype werden dort in einer beängstigenden Häufigkeit reproduziert. Rechtsextremisten und auch Islamisten nutzen Plattformen wie Facebook und Youtube oder Apps wie Whatsapp gezielt für ihre antisemitische Propaganda.

Die Wissenschaftler der TU stellten in ihrer Untersuchung ein „nie zuvor da gewesenes Ausmaß“ an judenfeindlichem Gedankengut fest. Sie sprachen von einer – ich zitiere - „Omnipräsenz von Judenfeindschaft (…) als Teil der Webkommunikation 2.0“. Das Internet muss der Studie zufolge als Beschleuniger gesehen werden für die Normalisierung von Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft.

Wie entsetzlich die Folgen dieses verbreiteten Hasses im Netz sein können, hat sich im vergangenen Oktober in Halle gezeigt. Der Rechtsextremist, der dort die Synagoge angegriffen und zwei Menschen getötet hat, hat sich - so lauten jedenfalls alle Berichte – sehr viel im Netz bewegt und war in Gruppen aktiv, in denen Anschläge mit besonders vielen Toten gefeiert werden. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser junge Mann über das Internet radikalisiert hat.

Halle hat gezeigt: Zum einen müssen jüdische Einrichtungen stärker geschützt werden als bisher.

Zum anderen müssen wir gesellschaftlich auf allen Ebenen und in allen Bereichen – und da gehört die virtuelle Welt dazu – stärker gegen Antisemitismus vorgehen.

Ein Geheimrezept gibt es dafür nicht.

Ich möchte drei Bereiche nennen, die ich für wesentlich erachte, um auch ohne Geheimrezept den Antisemitismus wirksam zu bekämpfen:

  1. Die staatliche und rechtliche Ebene
  2. eine konsequente Strafverfolgung und schlagkräftige Justiz

sowie 3. die Bildung

Zum ersten Bereich, der staatlichen Ebene. Hier hat sich in den vergangenen zwei Jahren viel Positives getan. Ich meine vor allem die Berufung von Antisemitismus-Beauftragten im Bund und in fast allen Bundesländern. Hier in Hessen haben Sie mit Uwe Becker einen Beauftragten, der sich schon seit Jahren sehr für das jüdische Leben und gegen Antisemitismus engagiert und dieses Engagement in seinem neuen Amt mit Elan weiterführt.

Es ist jetzt schon zu spüren, dass das Thema durch die Beauftragten eine deutlich höhere Aufmerksamkeit bekommt. Die Beauftragten haben sich zudem in einer Bund-Länder-Kommission vernetzt, um zum Beispiel einen Weg zu finden, um antisemitische Straftaten genauer zu erfassen.

Das ist ein wichtiger Punkt. Denn bisher haben wir nur ein sehr ungenaues Bild der Lage.

Nach der polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland werden mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten von Rechtsextremisten verübt. Diese Statistik hat leider einen Haken: Alle Straftaten, für die kein Täter ermittelt werden konnte, werden automatisch unter politisch rechts subsumiert. Das heißt, dass wir nicht wirklich wissen, wie viele Straftaten zum Beispiel von muslimischen Tätern verübt werden.

Daneben gibt es zahlreiche antisemitische Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen. Sie wurden bis vor kurzem gar nicht erfasst. Doch mittlerweile hat sich RIAS gegründet. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus bietet die Möglichkeit, sehr einfach – zum Beispiel online – und ohne großen bürokratischen Aufwand einen Vorfall zu melden. Das kann eine Pöbelei sein, ein beschmutzter Stolperstein oder antisemitische Fangesänge bei einem Fußballspiel in der Kreisliga.

Dieses niedrigschwellige System macht es den Betroffenen leicht, einen Vorfall zu melden. Sie müssen auch keine Sorge haben, wegen Geringfügigkeit abgewiesen zu werden.

Die Antisemitismus-Beauftragten arbeiten an einer verbesserten polizeilichen Statistik und gemeinsam mit RIAS und ähnlichen Angeboten können wir es erreichen, ein Bild zu erhalten, das der Realität einigermaßen entspricht. Damit können wir noch gezieltere Gegenmaßnahmen entwickeln als bislang.

Ebenso ist das Thema Antisemitismus-Bekämpfung auch beim Bundesinnenminister in der Priorität nach oben gerutscht. Ein wichtiger Schritt wird jetzt die Schaffung neuer Strukturen beim Bundeskriminalamt und beim Bundesamt für Verfassungsschutz sein. In beiden Behörden sollen insgesamt 600 neue Stellen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingerichtet werden. Selbst wenn man die mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten von Rechtsradikalen in der Kriminalstatistik anzweifeln kann, ist es eine Tatsache, dass die deutliche Mehrheit der Straftaten aus der rechten Ecke kommt.

In der Gesetzgebung sind derzeit auch wichtige Neuerungen geplant. Zum einen soll das Netz-DG so verschärft werden, dass die Plattformbetreiber strafbare Inhalte nicht nur löschen, sondern auch den Ermittlungsbehörden direkt melden müssen. Für eine konsequente Strafverfolgung müssen dann allerdings meines Erachtens die Behörden auch entsprechend personell ausgerüstet werden. Das sehe ich momentan noch Defizite.

Aus unserer Sicht noch wichtiger ist allerdings eine geplante Änderung im Strafgesetzbuch. In Paragraph 46 ist geregelt, welche Umstände erschwerend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Bisher sind dort genannt: rassistisch, fremdenfeindlich und menschenverachtend.

Geplant ist, in diesem Absatz auch antisemitische Tatmotivationen ausdrücklich zu erwähnen. Die bereits bestehende Rechtslage, nach der bei der Ahndung von Straftaten antisemitische Beweggründe grundsätzlich strafverschärfend zu berücksichtigt sind, soll durch diese Ergänzung klargestellt werden. So heißt es momentan im entsprechenden Antrag des Bundesrats.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich muss ergänzen: Das ist auch bitter notwendig. Leider treffen wir immer wieder auf Urteile, die mich zweifeln lassen, ob in der Praxis antisemitische Beweggründe tatsächlich grundsätzlich strafverschärfend wirken. Immer wieder scheinen Richter den Antisemitismus gar nicht zu erkennen oder sie wollen ihn nicht erkennen.

Damit bin ich bereits bei meinem zweiten Punkt angekommen: der Justiz.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen:

Vor dem jüdischen Gemeindezentrum in Dortmund hing letztes Jahr vor der Europa-Wahl ein Wahlplakat der Partei „Die Rechte“. Darauf stand der Slogan: „Israel ist unser Unglück“. Die Justiz stufte das als strafrechtlich nicht relevant ein. Zwar gebe es die Assoziation zum NS-Propagandaslogan „Juden sind unser Unglück“, aber man könne ja nicht beweisen, dass das die beabsichtigte Aussage sei. Womöglich habe die Partei sagen wollen, dass tatsächlich Israel das Unglück sei.

Solange unsere Justiz so interpretiert, haben wir keine Abschreckung.  Das ist eine Einladung, solche antisemitischen Kampagnen zu wiederholen. Es ist daher auch eine durchaus sinnvolle Maßnahme, Antisemitismus-Beauftragte für Staatsanwaltschaften zu berufen, wie es etwa in Berlin und Bayern der Fall ist.

Ich denke, dass auch in der Aus- und Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten sowie von Polizisten die Bekämpfung des Antisemitismus eine größere Rolle spielen sollte. Seit längerem fordere ich – das ist Ihnen vermutlich nicht unbekannt – das Schulklassen KZ-Gedenkstätten aufsuchen sollten. Doch auch für Polizisten und Justizbeamte hielte ich das für sinnvoll. Denn diese Besuche – wenn sie gut vor- und nachbereitet werden -  erhöhen die Sensibilität für das Thema.

Und damit wäre ich beim dritten Bereich, den ich für den wichtigsten halte: die Bildung.

Vor allem die Schulen, meine Damen und Herren, nehmen bei der Bekämpfung des Antisemitismus eine Schlüsselrolle ein.

Denn sie erreichen wie niemand sonst junge Menschen, denen sie Wissen über das Judentum und über die deutsche Geschichte mit ihren Abgründen vermitteln können. Allerdings ist diese Wissensvermittlung über das Judentum nicht wirklich zufriedenstellend. Hier gibt es durchaus Defizite.

Das Judentum kommt als Thema in der Schule überproportional viel im Zusammenhang mit der Schoa vor. In vielen Schulbüchern werden Juden ausschließlich als Opfer präsentiert. Die reiche jüdische Tradition, die Religion an sich, wichtige jüdische Denker und Rabbiner, der Beitrag des Judentums zur deutschen Kultur – das kommt hingegen meistens zu kurz.

Um hier Verbesserungen zu erreichen, ist der Zentralrat der Juden 2016 eine Kooperation mit der Kultusministerkonferenz eingegangen. Wir haben eine Gemeinsame Erklärung mit dem Ziel formuliert, die jüdische Religion, Kultur und Geschichte breiter als bislang in den Schulen zu vermitteln. Auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern sollen diese Themen künftig eine größere Rolle spielen. Um unsere gemeinsame Erklärung mit der KMK mit Leben zu füllen, haben wir als ersten Schritt eine kommentierte Sammlung von didaktischem Material für Lehrer online gestellt.

Neben guten Lehrmaterialien – da waren wir vom Zentralrat der Juden und die Kultusminister einig – sind auch persönliche Begegnungen mit Juden wichtig. Die Förderung solcher Begegnungen haben wir in der eben erwähnten Gemeinsamen Erklärung ebenfalls festgehalten und setzen sie bereits seit gut zwei Jahren um.

Bislang hat der Zentralrat der Juden jüdische Jugendliche fortgebildet, damit sie in Schulklassen das Judentum vermitteln können. Seit diesem Jahr haben wir das Projekt noch ausgeweitet: Unter dem Titel „Meet a Jew“ besuchen auch jüdische Erwachsene Vereine oder Verbände, um dort von ihrem jüdischen Alltag zu berichten.

Ich habe eben erwähnt, dass das Judentum in der Schule häufig nur im Zusammenhang mit dem Holocaust als Thema behandelt wird. Das ist richtig. Zugleich stellen wir aber immense Wissenslücken bei jungen Menschen über diesen Abschnitt der Geschichte fest.

Lehrerinnen und Lehrer stehen heute vor der schwierigen Aufgabe, ein historisches Geschehen vermitteln zu müssen, das für die Schüler so weit weg ist wie das Kaiserreich. Sind sie dafür gerüstet?

Ich fürchte, nein.

Denn wie steht es in unserem Land um die Lehreraus- und fortbildung? Gibt es hier Schwerpunkte, um neue Erkenntnisse der Holocaust-Forschung oder neue Entwicklungen in der Erinnerungskultur weiterzugeben?

Wenn wir einen Blick in unsere Hochschulen werfen, sieht es leider ganz düster aus. Erst 2017, also 72 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde in Deutschland und zwar hier in Frankfurt die erste Professur für Holocaust-Forschung eingerichtet.

Eine Studie der Freien Universität Berlin und der Jewish Claims Conference hat gezeigt, dass an vielen Universitäten keine Vermittlung von Grundlagenwissen über die Geschichte des Holocaust stattfindet.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die deutsch-jüdische Geschichte ist definitiv nicht auf den Zeitraum von 1933 bis 1945 beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine 1.700-jährige Geschichte, die in ihrer ganzen Breite in der Schule Raum finden sollte. Und sicherlich muss auch ein Überdruss verhindert werden, den Schüler entwickeln können, wenn sie zu oft und pädagogisch schlecht vermittelt mit dem Holocaust konfrontiert werden.

Wenn Schulen jedoch die Auseinandersetzung mit der Schoa vernachlässigen, machen sie quasi Platz für Politiker, die den Schlussstrich ziehen und lieber die „ruhmreichen“ Kapitel der deutschen Geschichte ins Rampenlicht stellen wollen.

Es sind Politiker, die gewählt werden, obwohl sie gegen Minderheiten hetzen, die Religionsfreiheit in Frage stellen und völkisches Denken verbreiten. Sie nutzen sowohl skrupellos die Lücke, die durch das nicht vorhandene Wissen da ist, als auch den Überdruss, der entsteht, wenn junge Menschen den Eindruck bekommen, sie müssten sich schuldig fühlen für die deutsche Vergangenheit.

Von den Rändern her fangen die Rechtspopulisten an, unsere demokratischen Errungenschaften zu untergraben. Dieses Einfallstor müssen wir wieder schließen.

Es gilt daher, durch eine gute Ausbildung unsere Lehrerinnen und Lehrer zu stärken.

Denn, und damit möchte ich noch einen letzten Punkt nennen, der die Schulen betrifft, Antisemitismus findet sich ja auch in den Schulen selbst.

In jüngster Zeit sind mehrere Fälle von antisemitischen Übergriffen auf Schüler bekannt geworden. Und Sie können sich vorstellen: Was bekannt wird, ist nur ein Bruchteil.

Es gibt kaum jüdische Schüler auf staatlichen Schulen, die noch nicht Antisemitismus am eigenen Leib erfahren haben. Übrigens nicht nur durch Mitschüler, sondern manchmal auch durch Lehrer. Hier in Frankfurt haben jüdische Eltern mit dem Lichtigfeld-Gymnasium eine sehr gute Alternative zu staatlichen Schulen für ihre Kinder. In vielen anderen Städten Deutschlands gibt es diese Alternative nicht.

Daher nimmt sich der Zentralrat der Juden jetzt auch verstärkt des Themas Antisemitismus in Schulen an. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit der KMK wird in diesem Jahr Empfehlungen erstellen, um Lehrern eine Orientierung für den Umgang mit Antisemitismus zu geben.  

 

Der Bereich Bildung geht natürlich weit über das Thema Schule hinaus. Wie bringen wir unsere Perspektive in die Gesellschaft ein? Die jüdische Gemeinschaft ist mit rund 100.000 Gemeindemitgliedern klein. Sehr viele Bürger dieses Landes kennen keinen Juden persönlich. Wie schaffen wir trotzdem Begegnungen, um Berührungsängste und Unwissen abzubauen?

Der Zentralrat der Juden geht dafür das größte Projekt an, das es in der Zentralratsgeschichte je gegeben hat: Wir bauen hier in Frankfurt, in der Senckenberganlage, eine Jüdische Akademie. Ähnlich wie Katholische oder Evangelische Akademien wollen wir dort ein vielfältiges Seminar-Angebot für ein breites Publikum anbieten. Noch in diesem Jahr rechnen wir mit dem Baubeginn. Und der Hauptsitz des Zentralrats der Juden ist zwar Berlin, aber um einen Bau pünktlich fertig zu stellen, ist Frankfurt mit Abstand der bessere Standort. Eine Jahreszahl für die Eröffnung nenne ich jetzt trotzdem nicht!

Doch im Ernst: Frankfurt ist der Gründungsort des Zentralrats der Juden und in jeder Hinsicht ein guter Ort für die Akademie.

Wie dringlich die Wissensvermittlung über das Judentum ist, kann ich Ihnen an einem ganz simplen Beispiel aufzeigen:

 

 

Im August vergangenen Jahres erschien ein neues Heft der Reihe „Spiegel Geschichte“ und zwar zum Thema Jüdisches Leben in Deutschland. Auf dem Titelbild waren in Schwarz-Weiß zwei Männer zu sehen mit Rauschebärten und in Kleidung, wie sie bei Juden im osteuropäischen Stetl im 19. Jahrhundert üblich war. Die Schlagzeile darüber lautete: „Jüdisches Leben in Deuschland. Die unbekannte Welt nebenan“.

Ich gehe mal davon aus, dass beim Spiegel-Verlag vergleichsweise gebildete Menschen arbeiten. Und dennoch ist einigen von ihnen das Judentum offenbar sehr fremd.

Bildung – das ist auch Ausbildung. Zum Schluss meiner Ausführungen möchte ich auf Ihren Bereich, die Wirtschaft, zu sprechen kommen. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft – und damit auch von Ihnen.

Die deutschen Unternehmen kommen in vielen Fällen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nach: Viele haben ihre NS-Vergangenheit erforschen lassen und offengelegt. Viele haben in die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädigung der früheren Zwangsarbeiter eingezahlt. Und viele Unternehmen engagieren sich, um auch ihre Azubis mit dem Thema Schoa zu konfrontieren.

 

 

 

Ein Beispiel, von dem ich kürzlich las, möchte ich erwähnen:

Eine Bremer Berufsschule und eine Berufsschule aus der Nähe von Berlin kooperieren seit Jahren mit der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Erst gerade waren wieder Tischler-, Maler- und Maurer-Auszubildende dort, um notwendige Reparaturarbeiten in der Gedenkstätte zu erledigen. Dabei trafen sie auch einen Holocaust-Überlebenden zum Gespräch. Ich finde, das ist ein beispielhaftes Projekt: Die Azubis lernen dabei in jeder Hinsicht und die Gedenkstätte profitiert auch noch von ihrem Besuch.

Ich möchte darüber hinaus appellieren: Ermöglichen Sie es gerade Ihren jungen Mitarbeitern, das heutige jüdische Leben kennenzulernen. Gehen Sie auf Ihre lokale jüdische Gemeinde zu. Suchen Sie den Austausch. Unsere Teilnehmer von „Meet a Jew“ besuchen auch Berufsschulklassen oder einen Azubi-Kurs. Wirken Sie in diesem Sinne positiv auf die Berufsschulen ein. Vielleicht machen es eine Städtepartnerschaft oder andere Kooperationspartner auch möglich, dass Ihre Azubis einmal Israel besuchen können und Israelis zu Ihnen kommen. Israel ist ja inzwischen als Start-up-Nation bekannt und daher ja auch in fachlicher Hinsicht für Sie interessant.

Ich bin immer noch überzeugt, dass Vorurteile am ehesten in sich zusammenfallen, wenn man sich gegenseitig kennenlernt.

 

 

Meine verehrten Damen und Herren,

wir werden den Antisemitismus vermutlich nie ganz besiegen. Doch mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, unsere Demokratie und auf das jüdische Leben sollten wir gemeinsam daran arbeiten, dass Antisemitismus sich nicht als Marke „Made in Germany“ etabliert.

Ich danke Ihnen!

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