"Wir Juden wissen, wie bitter Flucht ist"



Foto: WJC/Doron Ritter, Andreas Kneitz

Die Bilder könnten gegensätzlicher kaum sein: Auf der einen Seite Bürger, die erschöpfte Flüchtlinge mit Hilfsbereitschaft empfangen, auf der anderen Seite Neonazis, die "Ausländer raus" brüllen und Brandsätze auf Unterkünfte werfen.

Und doch: Wir sind froh, dass es weit mehr Menschen gibt, die die Flüchtlinge willkommen heißen als solche, die sie offen ablehnen.

Wir erleben spontanes Engagement von Bürgern, und auch viele Entscheidungen der Bürokratie fallen gerade sehr schnell. All das war lange nicht üblich. Das weckt zu Recht Sympathien weltweit.

Seit Jahren wird geklagt, Deutschland begreife sich nicht als Einwanderungsland, es habe keine Willkommenskultur. Angesichts des überwältigenden Engagements in diesen Tagen stimmt das offenkundig nicht.

Die jüdische Gemeinschaft, in Deutschland und weltweit, begrüßt diese Entwicklung hin zu einer offenen Gesellschaft. Das ist in unserem Sinne. Gerade Juden haben in der Vergangenheit häufig die bittere Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Emigration machen müssen.

Im 20. Jahrhundert standen Juden oft vor verschlossenen Grenzen – die Evian-Konferenz von 1938 ist in schlimmer Erinnerung, ebenso Präsident Roosevelts Entscheidung 1939, das Passagierschiff "St. Louis" mit mehr als 900 zumeist jüdischen Menschen an Bord nicht an Land gehen zu lassen und es stattdessen zurück nach Europa zu schicken.

Heutzutage flüchten viele Menschen aus Syrien und dem Irak, weil sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit um ihr Leben fürchten. Diese Flüchtlinge haben Schlimmes durchgemacht. Wer sollte denn mehr Verständnis für sie haben als wir Juden?

Die meisten Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak kommen gar nicht bis nach Europa. Hauptaufnahmeland ist nicht Deutschland. Es sind die Türkei und Jordanien, die schon mehrere Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben.

Einst nahm das Osmanische Reich Juden auf, die aus Spanien vertrieben wurden. In der NS-Zeit fanden ebenfalls viele Juden Zuflucht in der Türkei. Das Land setzt gerade diese humane Tradition fort und verdient unseren Respekt und unsere Unterstützung.

Die gewaltigen Flüchtlingsströme sind eine große Herausforderung für Europa. Es muss jetzt nicht nur zu einer gerechten Verteilung der Neuankömmlinge, sondern auch zu langfristiger Hilfe kommen. Mit dem näher rückenden Winter brauchen die Flüchtlinge feste Quartiere. Mit Zelten oder Brezeln und Stofftieren ist es nicht getan.

Diejenigen, die vorerst nicht in ihre Heimat zurückkehren können, müssen auch mit unseren westlichen Grundwerten vertraut gemacht werden. In Deutschland bedeutet das, die Verfassung zu respektieren und anzuerkennen, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört ebenso wie die Erinnerung an die Schoah.

Die Politiker und die für Flüchtlinge engagierten Bürger werden einen langen Atem brauchen. Denn die Bilder des sympathischen Deutschlands dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine andere Seite der Medaille gibt. Weiterhin werden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, und bei den nächsten Wahlen wird sich zeigen, ob gewisse Parteien politisches Kapital aus der Flüchtlingskrise schlagen können.

Die Mehrzahl der Flüchtlinge sind tapfere Menschen. Sie sind dankbar, hier bei uns in Sicherheit leben zu können und möchten ihrem Aufnahmeland gerne etwas zurückgeben. Wir sollten ihnen diese Chance geben. Im Judentum heißt es: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.

Am vergangenen Sonntag rief Papst Franziskus die katholischen Gemeinden in ganz Europa auf, jeweils eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Die Botschaft ist dieselbe: Wir alle müssen diese Herausforderung gemeinsam annehmen.

Wenn alle ihren Beitrag leisten, kann nicht nur den Flüchtlingen geholfen werden, sondern auch eine bessere Verständigung zwischen den Völkern und Religionen gelingen.

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