"Wir brauchen eine neue Begeisterung für die Demokratie"



Rede des Zentralrats-Geschäftsführers Daniel Botmann bei der Tagung der Deutschen Richterakademie zu „Das Rosenburg-Projekt aus externer Sicht“, 6.6.2017, Trier

Geschäftsführer des Zentralrats Daniel Botmann
Foto: M. Limberg

Zunächst möchte ich mich herzlich für die Einladung zur Tagung zum „Rosenburg-Projekt“ bedanken. Ich hatte bereits Mitte vergangenen Jahres im Rahmen einer In-House-Veranstaltung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz die Ehre, an der Präsentation des wahrlich umfangreichen Werkes „Die Akte Rosenburg“ teilzunehmen und einige Worte an die Teilnehmenden richten zu können.

Damals wie heute gilt: Man kann nicht anders als von der geleisteten Arbeit enorm beeindruckt zu sein. Die beiden wissenschaftlichen Leiter des Rosenburg-Projektes, Herr Professor Doktor Görtemaker und Herr Professor Doktor Safferling, haben hier gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums Enormes geleistet. Und Sie können sich vorstellen, dass die präsentierten Ergebnisse mich als Juristen noch einmal in ganz besonderer Weise berühren und in ihren Bann ziehen – so bedrückend diese auch sind.

Mein Dank geht ganz ausdrücklich an die ehemalige Justizministerin Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, aber vor allem an Herrn Bundesminister Heiko Maas für sein unermüdliches Engagement für das Rosenburg-Projekt. Nicht minder wichtig sind aber die Leute, die hinter den Kulissen das Projekt vorantreiben. Hier möchte ich ausdrücklich Herrn Nettersheim und Herrn Wasser für ihr stetes und unermüdliches Wirken danken, das dem Projekt zu der öffentlichen Wahrnehmung verhilft, die es verdient.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland, meine Damen und Herren, hat das Rosenburg-Projekt von Anfang an außerordentlich begrüßt und wo immer möglich unterstützt.

Denn das Rosenburg-Projekt geht über bereits vorliegende Arbeiten zur Darstellung des Themas „Justiz im Nationalsozialismus“ hinaus und stellt eine ganz wichtige Frage:

Wie ist die Justiz, wie ist die deutsche Gesellschaft, wie ist die Justiz nach dem Untergang des nationalsozialistischen Terrorregimes mit ihrem „braunen Erbe“ umgegangen?

Denn nach dem nationalsozialistischen Massenmord, der Schuld der Mörder, Täter und Mitläufer sowie all jener, die sich an den Verbrechen unter dem nationalsozialistischen Regime, dem millionenfachen, industriellen Massenmord an Juden, an Sinti und Roma, Behinderten, Lesben und Schwulen, politisch Verfolgten und anderen Minderheiten mitschuldig gemacht hatten, kam das Verschweigen, das Verharmlosen, das Leugnen und das aktive Vertuschen!

Das Rosenburg-Projekt hat also das im Fokus, was der jüdische Publizist und Journalist Ralph Giordano einst so treffend als die „Zweite Schuld“ bezeichnet hat.

Die „Zweite Schuld“ setzte die „Erste Schuld“ der Deutschen unter Hitler voraus. Die „Zweite Schuld“ meint die Verdrängung und Verleugnung der „Ersten Schuld“ nach Kriegsende 1945.

Sie meint die Weigerung breiter Teile der deutschen Öffentlichkeit zu einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen ebenso wie eine angemessene Entschädigung der Opfer.

Die „Zweite Schuld“ meint all diejenigen politischen Entscheidungen, die es Tätern ermöglichten, auch in der bundesrepublikanischen Demokratie wieder in Amt und Würden zu gelangen.

Sie meint auch die inhaltliche Kontinuität – den Geist, den Gesetze noch über Jahrzehnte nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reiches atmeten und so dessen Wirken über den gewaltsamen Untergang des nationalsozialistischen Terrorregimes hinaus verlängerten.

Sie meint schließlich auch die aktive Rücknahme jener in den Öffentlichen Dienst, die im Rahmen der Entnazifizierung der Alliierten ihren Schreibtisch als Beamte hatten räumen müssen.

Der Historiker Norbert Frei beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:

„Die Versorgung und Wiedereinstellung praktisch all jener 1945 – wie es beschönigt hieß – ‚verdrängten Beamten’ und ehemaligen Berufssoldaten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik, 1951 mit dem sogenannten ‚131er’-Gesetz auf den Weg gebracht, war ein weiteres wichtiges Element dieser Vergangenheitspolitik, in deren Mittelpunkt jetzt allerdings der Kampf um die Begnadigung und Freilassung der von den Alliierten seit 1945 als Kriegs- und NS-Verbrecher verurteilten Deutschen rückte.

In diesem Kontext wurde Anfang der fünfziger Jahre eine beispiellose Strategie der Verharmlosung, Leugnung und Irreführung aufgeboten, die am Ende selbst ruchlosesten NS-Verbrechern zur Freiheit verhalf, sogar Einsatzgruppenführer, die Tausende von Menschen auf dem Gewissen hatten, kamen damals aufgrund massiven politischen und gesellschaftlichen Drucks frei.“ (Norbert Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 31 f.)


Wer heute um die langjährige, personelle Belastung des BMJV weiß – wer weiß, dass der Grad der Belastung in den führenden Positionen der Abteilungen und Referate aufgrund von Beförderungen bis in die späten 1950er-Jahre hinein sogar noch zunahm, wer weiß, dass die Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder im Untersuchungszeitraum durchschnittlich bei weit über 50 Prozent und in manchen Abteilungen des Ministeriums bei über 70 Prozent lag, der muss sich über das aktive Bemühen, die Vergangenheit zu verschleiern, wahrlich nicht wundern.

Hat man einmal verstanden, wie groß die Kontinuitäten der sogenannten furchtbaren Juristen waren, so muss man auch die Frage stellen, welche, wenn heute auch nicht mehr personellen, aber inhaltlichen Kontinuitäten in Gesetzestexten, Urteilen und Kommentaren noch lange Zeit den Geist derer atmeten, die seinerzeit nur allzu leichtfüßig den Systemwechsel vom NS-Staat in die bundesrepublikanische Wirklichkeit geschafft haben.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass ein Projekt wie das Rosenburg- Projekt erst im Jahre 2012 angestoßen wurde. Dies zeigt auch, wie nachhaltig und andauernd das aktive Beschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen, der Mittäterschaft der Justiz lange Jahre auch in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, noch Jahrzehnte nach der Schoa, dem nationalsozialistischen Massenmord, währte.

Wie unerträglich diese Zustände für die wenigen Überlebenden des Holocaust gewesen sein müssen, die über Jahrzehnte mit dieser Wirklichkeit und ihren ganz konkreten Folgen für die Rechtsprechung konfrontiert gewesen sind, kann man nur erahnen.

Die Mörder und ihre Gehilfen – Täter, Mittäter und Mitläufer – flüchteten sich, statt sich ihrer Verantwortung zu stellen, nur allzu gern in eine Art „Opfermentalität“ und taten nach „Bombenkrieg“, „Vertreibung“ und Entnazifizierung – die gern als „vermeintliche Siegerjustiz“ diskreditiert wurde und bis heute wird – so, als habe man sehr, sehr viel Anlass zum Selbstmitleid.

Wenn gar nichts mehr ging und der Nachweis der Schuld zu unwiderlegbar wurde, dann delegierte man die Schuld gern an „den Führer“, „die Nationalsozialisten“, „die SS“, „den Volksgerichtshof“ und sonstige dem allgemeinen Volk vermeintlich als Fremdkörper gegenüberstehende Tätergruppen – mit denen man sich selbst in keinerlei Verbindung sah.

Kein Wort über diejenigen, die zu Hunderttausenden von der Entrechtung und Enteignung von Jüdinnen und Juden profitiert hatten. Selbstverständlich auch kein Wort über das millionenfache Mittun, ohne das das nationalsozialistische Verbrechen gar nicht hätte umgesetzt werden können. Der Blick wird viel lieber ausschließlich auf die „eigenen“ Opfer gerichtet. Die Vergangenheit wollte und will man auch heute noch in vielen Teilen der Bevölkerung lieber ruhen lassen.

Dass man angeblich „von all dem“ nichts gewusst habe, ist ein Stereotyp – obwohl heute längst wissenschaftlich widerlegt –, das bis auf den heutigen Tag nachwirkt und vom rechtsextremistischen und völkischen Milieu in unserer Gesellschaft gern wiederholt und als vermeintliche Wahrheit verkauft wird. Dies können wir jährlich zum Beispiel am 13. Februar beim Gedenken an die Opfer alliierter Luftangriffe auf Dresden 1945 verfolgen, wenn rechte und braune Gruppen durch diese Stadt marschieren und geschichtsklitternd und geschichtsverfälschend vom sogenannten Bombenholocaust der Alliierten auf Dresden schwadronieren. Hier wird der Begriff Holocaust, der sechs Millionen Juden das Leben gekostet hat, eben mal umgedeutet und der eigene, ausschließliche Opferstatus behauptet und zelebriert.

Die Nazi-Täter wurden von der Bundesrepublik – wenn überhaupt – erst mit großer Zeitverzögerung zur Rechenschaft gezogen – und das ganz und gar unzureichend.

In diesem Zusammenhang sei an die herausragenden Verdienste von Fritz Bauer erinnert, den Sohn jüdischer Eltern und Generalstaatsanwalt in Hessen. Er kämpfte unermüdlich dafür, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Mit seinem Namen sind untrennbar die Überführung Adolf Eichmanns nach Israel, die Neubewertung der Widerstandskämpfer des 20. Juli und vor allem die Frankfurter Auschwitz-Prozesse verbunden. Wer z. B. den Kinofilm über sein Wirken gesehen hat, weiß, wie massiv die Widerstände waren, wie gigantisch hoch die Mauer des Schweigens war, die die Täter über Jahrzehnte hinweg schützte. Schweigekartelle allerorten – über Ministerien hinweg.

Unerträgliche Nachsichtigkeit der Justiz mit den Tätern zeigte sich auch in den Strafverfahren der jungen Bundesrepublik Deutschland selbst.

Ich erinnere hier exemplarisch an den „Ulmer Einsatzgruppen-Prozess“ im April 1958 gegen zehn Gestapo-, SD- und Ordnungspolizeiangehörige sowie Teile des Einsatzkommandos Tilsit, das 1941 im litauisch-deutschen Grenzgebiet 5502 jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet hatte.

Obwohl die Staatsanwaltschaft zu Recht die hohe Eigeninitiative bei den Mordaktionen herausgestellt hatte und für mehrere ehemalige SS-Führer eine lebenslange Strafe gefordert hatte, wurden die Angeklagten am 29. August 1958 nur als „Gehilfen“ verurteilt. Die Mörder von Tausenden Menschen waren damit nur Unterstützer.

Dies allerdings – man kann es nicht anders sagen – entsprach seinerzeit der Vergangenheitsbewältigung der Rechtsprechung bis hinauf zum BGH. Täter wurden nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen, es wurde zudem auch aktiv verhindert, dass man sie zur Rechenschaft ziehen konnte. NS-Verbrecher wurden sogar gewarnt, wenn ihnen die Justiz anderer Staaten auf den Fersen war. Bis auf den heutigen Tag bleibt der Aufklärungswille weit hinter dem zurück, was man angesichts der monströsen Verbrechen erwarten konnte und musste.

Dies gilt auch für die Entschädigung von Opfern. Der deutsche Sozialrichter Jan-Robert von Renesse und sein Engagement für die Zahlung von sogenannten Ghettorenten ist hier ein herausragend positives Beispiel dafür, dass es auch anders geht. Gegen welche Widerstände in Politik und Justiz auch er zu kämpfen hatte, ist kein Geheimnis.

Die sogenannte kalte Amnestie für unzählige Nazitäter, deren Verbrechen nie aufgeklärt wurden, bleibt aus meiner Sicht jedoch einer der größten Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24. Mai 1968 wurden Zehntausende schlagartig von jeder Strafverfolgung befreit. Beihilfe zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war so zum 9. Mai 1960 verjährt.

Es ist nicht nur, aber auch ein Verdienst des Rosenburg-Projekts, dass all das Gesagte heute – und man muss sagen: endlich – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Man möchte beinahe sagen: „Besser spät als nie.“ Auch wenn dieser Satz angesichts der Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates, seiner Verbrechen und des damit verbundenen Leides für die Opfer einen solchen Sarkasmus eigentlich verbietet.

Das Ergebnis des Rosenburg-Projekts macht dem – leider bis auf den heutigen Tag in der Öffentlichkeit weit verbreiteten – Mythos von der sogenannten Stunde Null ein Ende.

Es macht auch ein Ende mit der Denkfigur vom „unpolitischen Beamten“, wonach diese lediglich passiv ausführen, was ihnen je nach politischer Vorgabe vorgegeben wird, und gleichsam vom jeweiligen „Regime“ völlig unbeeinflusst agieren.

Ein solches Berufsbild von Juristen würde negieren, dass diese im staatlichen Gefüge eine zentrale Rolle ausüben, dass sie eben nicht nur „Techniker der Macht“ sind, sondern dass sie mit ihrem Handeln unmittelbare Verantwortung tragen, weil Politikberatung und Politiknähe zu den Kernaufgaben von Ministerialverwaltung gehören, wie die Professoren Görtemaker und Safferling richtig in ihrer Publikation zutreffend herausgearbeitet haben. („Die Akte Rosenburg, S. 453).

Und, meine Damen und Herren, auch für Juristen muss angesichts ihrer Aufgabe, das Recht zu schützen, in besonderem Maße gelten, was Viktor Hugo einst formulierte: Wissen und Gewissen sind die nicht wegdenkbaren Eigenschaften der Justiz. Form und Inhalt von Gesetzen sind untrennbar miteinander verbunden.

Dies muss eine der zentralen Lehren aus dem Nationalsozialismus sein, an der sich Juristinnen und Juristen täglich in ihrer Arbeit und ihren Entscheidungen messen lassen müssen.

Mit dem Rosenburg-Projekt hat man den Blick in den Spiegel gewagt, wissend, dass dieser Blick schmerzhaft sein würde.

In einer Zeit, in der sich viele mehr oder weniger offen, immer noch oder schon wieder nach dem viel zitierten Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit sehnen – ich erinnere hier an die unsäglichen Ausführungen von Björn Höcke (AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag) von der angeblich notwendigen erinnerungspolitischen 180-Grad-Wende –; in dieser Zeit also wagt das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine offene, transparente und öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Das verdient Anerkennung und Respekt! Insbesondere dafür, dass diese Auseinandersetzung nicht etwa ausschließlich hinter verschlossenen Türen und in elitären Expertengremien stattfindet.

Vielmehr hat man sich mit dem Prinzip der „Public History“ einem Umgang mit den Ergebnissen der Expertenkommission verschrieben, der ganz bewusst die Öffentlichkeit sucht. Hier handelt es sich nicht um ein Werk, das, einmal abgeschlossen, in irgendwelchen Schubladen verstauben wird.

Dies, meine Damen und Herren, war einer der Gründe, warum der Zentralrat der Juden in Deutschland das Projekt von Anbeginn an begrüßt hat. Untersuchungen, Studien und Publikationen, die folgenlos in den Schubladen verstauben, haben wir wahrlich genug.

Wir wünschen uns, dass die Ergebnisse der Expertenkommission ein möglichst zahlreiches und vor allem auch ein junges Publikum erreichen – in den Schulen, im Bereich der beruflichen Ausbildung und natürlich an den Universitäten.

Vor allem ist es aber unbedingt notwendig, dass die Ergebnisse dieses Projekts künftig für alle verpflichtender Teil der Ausbildung von künftigen Juristinnen und Juristen in Deutschland werden.

Ich wünsche mir, dass die Lehrpläne der Universitäten diesen Teil der deutschen Geschichte ausführlich lehren. Dazu gehören nicht nur die Geschichte der Justiz während des Nationalsozialismus, sondern eben auch die Geschichte der Justiz nach 1945 und der Umgang mit dieser Vergangenheit sowie den Lehren, die daraus zu ziehen sind.

Studierende der Rechtswissenschaften und Rechtsreferendare sollten eine Ausbildung absolvieren, die sie in die Verantwortung nimmt, Gesetze nicht nur blind auszuführen und das eigene Gewissen dabei eben nicht außen vor zu lassen.

Dazu gehört die Vermittlung eines fundierten Wertefundaments angehender Juristen bereits an den Universitäten ebenso wie das Bewusstsein für die herausragende Verantwortung, die Juristen in diesem Lande haben.

Wir dürfen nie vergessen, dass es Gesetze waren, die es dem nationalsozialistischen Regime ermöglichten, ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren. Es waren Juristen, die antisemitisch argumentiert haben. Die „Nürnberger Rassegesetze“ wurden von Juristen formuliert und unterstützt.

Die ehemalige Bundesministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, formulierte in ihrem Schreiben vom 2. Juli 2012 an den Zentralrat der Juden in Deutschland sehr richtig:

„Dem Rechtsextremismus glaubwürdig entgegenzutreten und die Debatte über neue nationalistische und antisemitische Handlungsmuster glaubwürdig zu bestehen, verlangt auch die Bereitschaft der staatlichen Institutionen, sich dem Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen und diese vorbehaltlos aufzuklären.“

Zu Recht monierte die damalige Justizministerin, dass es an Wissen über die personellen und sachlich-politischen Kontinuitäten im Regierungshandeln der Nachkriegsjahre fehle. Diese aufzuarbeiten sei kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung, um die gern zitierten „Lehren“ aus der Vergangenheit ziehen zu können.

Und das, meine Damen und Herren, ist für mich als Jude in Deutschland, als Rechtsanwalt, aber auch einfach als Bürger dieses Landes der zentrale Punkt des Rosenburg-Projekts.

Was lernen wir aus den Ergebnissen dieses Projektes für das Heute und wie setzen wir die gesammelten Erkenntnisse in heutiges Handeln um?

Werden wir hellhörig und handeln wir, wenn falsch verstandener Korpsgeist zu antidemokratischen Entwicklungen in demokratischen Institutionen führt?

Agieren wir, wenn Autoritätsliebe, Hang zur Unterwerfung, Obrigkeitshörigkeit, Selbstherrlichkeit und Opportunismus in Verwaltungen, Ministerien oder demokratischen Einrichtungen unseres Rechtsstaates fröhliche Urstände feiern?

Das sind Probleme von gestern, wenn nicht vorgestern? Dass alles spielt doch heute keine Rolle mehr?

Meine Damen und Herren, erst vor wenigen Tagen mussten wir Meldungen über einen unter Terrorverdacht stehenden rechtsextremen Bundeswehroffizier, Franco A., zur Kenntnis nehmen. Seit dem ersten Bekanntwerden kommen täglich weitere Hinweise über das Vorleben des Offiziers und seines Netzwerkes ans Licht.

Vieles deutet darauf hin, dass es sich hier – wie so oft – nicht um einen Einzeltäter handelt, sondern viel mehr dahintersteht. Mit Entsetzen mussten wir von einer „Todesliste“ Kenntnis nehmen, auf der viele prominente Persönlichkeiten, darunter auch Justizminister Heiko Maas, aber auch der Zentralrat der Juden in Deutschland als potenzielle Anschlagsziele gelistet waren. Immer mehr Hinweise werden bekannt, wonach die rechtsextreme Gesinnung von Franco A. durchaus lange bekannt war.

Und zwar ohne dass die zuständigen Personen oder Dienste entschieden agiert oder demokratische Kontrollinstitutionen gegriffen hätten.

Jetzt wird hastig versucht, aufzuräumen. Kasernen werden umbenannt, Bilder von Wehrmachtssoldaten werden hektisch abgehängt und Relikte eines Traditionsverständnisses der Bundeswehr, die an die Zeit der Wehrmacht anknüpfen, quasi im Schnelldurchlauf öffentlichkeitswirksam beseitigt.

Meine Damen und Herren, ich habe das Beispiel Bundeswehr erwähnt, weil es auf exemplarische Weise zeigt, dass die Frage des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erstens nicht nur das Justizministerium betrifft und zweitens auch über 70 Jahre nach der Schoa auch heute noch ein aktuelles Thema ist. Es rührt an die Grundfesten unseres demokratischen Systems. Hier dürfen wir keine Zweideutigkeiten im Umgang mit dem braunen Erbe zulassen.

Das ist auch ein Grund, warum der Zentralrat der Juden in Deutschland das Verbot der NPD gefordert hat und fordert. Und Sie können sicher sein, auch wir wissen, dass ein Verbot braunen Gedankengutes dieses nicht aus den Köpfen beseitigt. Es ist allerdings unsere feste Überzeugung, denjenigen die Rote Karte zu zeigen, die glauben, ungestraft, unter dem Deckmäntelchen der Meinungsfreiheit, aktiv und gewalttätig an der Abschaffung unseres Rechtsstaates arbeiten zu können.

Das Bundesverfassungsgericht hat den geistigen Hintergrund dieser Partei als eindeutig nationalsozialistisch klassifiziert. Dass ein Verbot erst möglich sein soll, wenn die NPD eine Strahlkraft entwickelt hat, die unser Rechtssystem ernsthaft gefährdet, wirft für mich die Frage auf, ob – wenn dies der Fall ist – die Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes überhaupt noch möglich sein würde. Ich möchte zudem zu bedenken geben, dass sich die Strahlkraft einer solchen menschenverachtenden Partei nicht allein an den Prozentzahlen, die sie bei Wahlen erreicht, festmacht, sondern auch an dem gesellschaftlichen Klima, das sie schafft – vor Ort, in den Städten, Landkreisen, Gemeinden und Dörfern. Für die Opfer rechter Gewalt schaffen die NPD und ihre weitverzweigten Netzwerke schon jetzt ein lebensbedrohliches Klima der Angst, der Gewalt und der Einschränkung ihrer fundamentalen Grundrechte als Bürger dieses Landes.

Meine Damen und Herren, rechte und rechtsextreme Populisten, die häufig unter dem Deckmäntelchen des vermeintlich legitimen Protestes der „Zukurzgekommenen“ auftreten, versuchen nichts anderes, als unsere demokratische Werteordnung zunächst ins Wanken zu bringen und schließlich zu zerstören.

Angesichts dieser Entwicklungen braucht es meiner Ansicht nach auch so etwas wie eine neue Form der Begeisterung für das, was unsere Demokratie ausmacht.

Trotz mancher Mängel: Wir leben in einem Europa, das seit Jahrzehnten keine Kriege mehr kennt. Wir leben in Gesellschaften, wo Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit – all diese Rechte – zur Selbstverständlichkeit gehören.

Übrigens Rechte, um die uns Menschen überall auf der Welt beneiden! Wir müssen uns meiner Ansicht nach aus unseren gemütlichen Schaukelstühlen erheben und für diese Demokratie sichtbar, offen und engagiert eintreten.

Es ist eben nicht in Stein gemeißelt, dass unser Europa und unsere Werte – ohne, dass wir etwas dazu tun – ewig Bestand haben werden. All jene, die glauben, das sei so, werden vielleicht eines Tages bös erwachen.

Es war Paul Spiegel, der einmal sinngemäß sagte: Wir Juden sind aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit wie ein „Seismograph“ für gesellschaftliche Entwicklungen, die aus dem Ruder laufen. Und wir beobachten diese Gesellschaft sehr genau. Dabei haben wir auch, aber nicht nur unsere ureigenen Interessen im Blick. Denn wir wissen, wo heute Minderheiten angegriffen werden, sind morgen jüdische Menschen Zielscheibe von Antidemokraten. Gleiches gilt auch umgekehrt.

Das gemeinsame Fundament unserer Gesellschaft ist das Grundgesetz. Die Religionsfreiheit spielt für Jüdinnen und Juden hierbei selbstverständlich eine wichtige Rolle. Wer die Religionsfreiheit einschränken will, indem er das koschere Schächten oder die Beschneidung verbieten will – wie dies zur Zeit Repräsentanten der AfD tun –, der muss wissen, dass er damit fundamentale Gebote des Judentums außer Kraft setzen will.

Wer dies heute fordert, meint am Ende des Tages, dass er kein jüdisches Leben in Deutschland will. Solchen Entwicklungen werden wir Juden in Deutschland uns offensiv entgegenstellen.

Und ich sage es auch hier vor Ihnen ganz offen: Wir erwarten hierbei nicht nur Ihr Verständnis, sondern ganz selbstverständlich auch Ihre aktive Unterstützung, meine sehr geehrten Damen und Herren. Religionsfreiheit ist kein nettes „Nice to have“ der Demokratie, sondern fundamentaler Bestandteil dieser Gesellschaft. Dies gilt auch, wenn die Rechte anderer Religionsgemeinschaften beschnitten werden sollen.

Ich möchte noch ein weiteres Thema, das Juden in Deutschland heute bewegt, ansprechen. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus, der auf Beschluss des Deutschen Bundestages eingesetzt worden ist, hat jüngst seinen Bericht vorgelegt und darin alle existierenden Formen des Antisemitismus untersucht.

Hierin hat er unter anderem festgestellt, dass der israelbezogene Antisemitismus in unserer Gesellschaft derzeit bei 40 Prozent liegt. Das heißt, dass der israelbezogene Antisemitismus derzeit eine Art „Ventilfunktion“ für diese Gesellschaft einnimmt. Was man sich sonst nicht zu sagen traut: Hier scheint es möglich. Da wird von jüdischer Weltverschwörung gefaselt, der Staat Israel zum „Juden“ unter den Völkern gemacht und alles aus dem braunen Werkzeugkasten des Antisemitismus herausgeholt, was man sich all die Jahre zu Recht nicht mehr getraut hat, zu sagen.

Israel, der Staat, zu dem alle Juden weltweit ein besonderes Verhältnis haben, wird nun massiv dämonisiert, delegitimiert und aus der Völkergemeinschaft ausgesondert. Für manche offenbar ein legitimes Ziel. Antizionismus – die legitime Form des Antisemitismus?

Am 18. Januar 2016 fand am Wuppertaler Landgericht die Berufungsverhandlung gegen zwei der drei Attentäter statt, die Ende Juli 2014 einen Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge verübt hatten. Das Amtsgericht hatte zunächst erklärt, der Anschlag auf die Synagoge sei keine antisemitische Tat, da die Attentäter erklärt hatten, sie hätten mit dem Anschlag nur die Aufmerksamkeit auf den Konflikt in Gaza lenken wollen.

Meine Damen und Herren, wenn ein Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland – warum auch immer – keine antisemitische Tat sein soll – dann stimmt in unserer Gesellschaft und mit Verlaub auch in unserem Rechtssystem etwas nicht. Antisemitismus ist nicht akzeptabel: egal ob er sich unter dem Deckmäntelchen des Antizionismus versteckt, ob er im Gewand des Rechtsextremismus daherkommt, ob er von muslimischen Minderheiten kolportiert wird oder sich in Form des christlichen Antijudaismus manifestiert.

Wo der Antisemitismus grassiert, da sind auch unsere freien und offenen Gesellschaften in Gefahr. Deshalb ist das ein Problem, das uns alle angeht.

Es scheint mir, meine Damen und Herren, dass Juristinnen und Juristen sowohl was die Definition und Erkennen des Antisemitismus ebenso wie der juristische Umgang mit dem Phänomen, vorsichtig gesagt, ausbaufähig ist. Ich denke deshalb, auch hier ist im Bereich der Ausbildung von Juristen dringend nachzubessern.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland setzt sich auch deshalb aktiv für die Annahme der sogenannten Working Definition of Antisemitism ein, die als praktischer Leitfaden zur Erkennung und Verfolgung von Antisemitismus sowie zur Erarbeitung und Umsetzung gesetzgeberischer Maßnahmen gegen Antisemitismus dienen soll. Großbritannien und Österreich haben diese Definition bereits implementiert. Es ist Zeit, dass auch Deutschland dies tut.

Ich möchte Ihnen den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus unbedingt ans Herz legen.

Da auch in weiten Teilen der Bevölkerung die Einsicht in das Problem fehlt, müssen auch Juristen umso entschiedener gegen jegliche Form des Antisemitismus Position beziehen.

Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss ich nicht erklären, dass Urteile auch eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung in die Gesellschaft hinein haben.

Rechtsextremisten ebenso wie Extremisten jeglicher Couleur müssen wissen, dass ihnen mit der vollen Härte des Rechtsstaates begegnet wird. Geltendes Recht muss konsequent und vor allem auch zeitnah angewendet werden.

Wenn Antisemiten und Verfassungsfeinde das Gefühl haben, ihnen drohen für ihre Taten keinerlei Konsequenzen, wird das ihr Tun befeuern.

Gleiches gilt für den Bereich Hate Speech bzw. Hass und Hetze im Internet. Wer meint, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Internet ohne Konsequenzen bleiben, der muss lernen, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist. Aus Worten folgen oft genug schrecklich Taten. Das haben wir aus der Geschichte gelernt!

Der Zentralrat der Juden in Deutschland unterstützt deshalb die diesbezügliche Gesetzesinitiative von Bundesminister Heiko Maas ausdrücklich!

Juden und andere Minderheiten sind in den sozialen Medien täglich aggressivem antisemitischem Hass und geifernder Hetze ausgesetzt.

Es ist nicht länger hinnehmbar, dass der Kampf hiergegen vom guten Willen multinationaler Konzerne wie Facebook, Twitter und Co. abhängig ist – oder aber ausschließlich an die Zivilgesellschaft wegdelegiert wird.

Lange genug hat man auf die Freiwilligkeit der Konzerne gesetzt. Immer wieder haben diese enttäuscht oder sich sogar offensiv geweigert, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Hass und Hetze im Netz, meine Damen und Herren, produzieren Opfer – und zwar nicht virtuell, sondern in der Realität!

Zu Recht weist Minister Heiko Maas meiner Ansicht nach darauf hin: Erst kommen die Worte, dann die Taten.

Eine strafrechtliche Sanktionierung von Volksverhetzung, Verherrlichung des Nationalsozialismus sowie Holocaust-Leugnung in den sozialen Medien ist unserer Ansicht nach daher dringend erforderlich. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Konzerne hat bislang nicht zu einer merklichen Reduzierung von Hasskommentaren geführt. Dies ist nicht länger hinnehmbar!

Selbstverständlich müssen wir hierbei beachten, dass die Meinungsfreiheit nicht in Gefahr gerät oder Kompetenzen der Gerichte komplett an die Privatwirtschaft ausgelagert werden. Es geht auch nicht um Gesinnungskontrolle oder eine Internetpolizei.

Aber – und das ist das Entscheidende – wenn wir selbst – indem wir nicht handeln – unsere geltenden Rechtsnormen aufgeben, dann müssen wir uns auch nicht wundern, wenn diese „Freiräume“ von Verfassungsfeinden aller Couleur genutzt werden.

Die Ergebnisse des Rosenburg-Projekts haben gezeigt: „Zu oft in der deutschen Geschichte haben sich Juristen als bloße Rechtstechniker ohne soziale und politische Verantwortung verstanden – die Folgen waren meist fatal. Wenn Gefahr für die Demokratie aufzieht“, so Heiko Maas in der neuesten Ausgabe des Spiegel, „muss unmissverständlich klar sein, wo man steht.“ (Spiegel Nr. 22, S. 39)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Weitere Artikel

Stellungnahme Daniel Botmann im Fachgespräch

Stellungnahme Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Fachgespräch „Aktivitäten der Bundesregierung zur Förderung...

Verabschiedung der Gemeindetagsteilnehmer

Dr. Josef, 17.12. in Berlin

Gala-Abend auf dem Gemeindetag 2023

Ansprache Dr. Josef Schuster, 16.12. in Berlin

Volkstrauertag auf dem Jüdischen Friedhof in...

Ansprache Dr. Josef Schuster zum Volkstrauertag auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg, 19.11.2023