Rede von Prof. Dr. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei einer Gedenkveranstaltung im Bundesfinanzministerium



Niemand konnte 1933 ahnen, wie weit die neuen Machthaber gehen würden. Auch die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden unterschätzte die verheerende Dynamik nationalsozialistischer Rassepolitik. Viel zu lange hielt sich die verhängnisvolle Überzeugung, die Emanzipation der Juden in Deutschland sei trotz aller nationalsozialistischen Drohgebärden und antisemitischen Hasstiraden unumkehrbar.

Eine Haltung, die auch der Hamburger Bankier Max M. Warburg einnahm. Warburg liebte seine Stadt und war mit Herz und Seele konservativer deutscher Patriot. Den Anfang der 30er Jahre immer aggressiver werdenden Antisemitismus bewertete er als vorübergehende Erscheinung. In einem kurz vor Machtantritt der Nationalsozialisten veröffentlichten Artikel für die Zeitschrift des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ zeigte er sich gleichwohl tief besorgt: „Noch einmal wie im Mittelalter stehen die alten Lügen und Verleumdungen gegen alle Juden auf. Welch ein trauriger Anblick! Mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften gefährdet, der natürliche Gerechtigkeitssinn weiter Kreise des Volks zerstört und ihr Kulturempfinden in die finsterste Vergangenheit zurückgeworfen...Den Irrenden und Unwissenden können wir verzeihen. Nicht aber jenen, die um die Wahrheit wissen, den Mut jedoch nicht finden, offen gegen die Schande des Antisemitismus aufzutreten (…). Sie trifft unsere Verachtung, und wir empfinden als Deutsche Scham über solchen Mangel an ritterlichem Mut. Es genügt nicht, einzelnen Juden ganz leise zuzuflüstern, dass man kein Antisemit sei, oder dass man in seinem Antisemitismus mit einigen Juden eine Ausnahme mache. In dem beklagenswerten Zustand der Verhetzung und Verwirrung wird das deutsche Volk niemals die wahren Keime seines Unglücks finden.“

Nichts schien damals darauf hinzudeuten, dass dieser Zustand der „Verhetzung und Verwirrung“ einen Völkermord an den Juden ermöglichen würde. Auch die vollständige „Entjudung der Wirtschaft“, wie es im Nazi-Jargon hieß, lag noch jenseits aller Vorstellungskraft.

Ein solches Szenario war bis dahin undenkbar, obwohl Bereichern und verschämtes oder offensives Zugreifen auf die kleinen und großen Besitztümer des jüdischen Nachbarn 1933 längst in vollem Gange waren. Das 1934 vom Comité des Délégations Juives in Paris veröffentlichte „Schwarzbuch“ schilderte die Lage der Juden in Deutschland in düsteren Farben: „Wie viele Fabriken, Großhandelsfirmen, Kaufmannsgeschäfte im stillen abgewürgt worden sind, ohne dass je eine Zeitung eine Zeile darüber gemeldet hat, ohne dass auch die geängstigten Besitzer je ein lautes Wort darüber gesprochen haben, davon wird selbst eine spätere Geschichtsschreibung schwerlich jemals ein vollständiges Bild geben können. Man wird aus dem Ergebnis, das heute noch für niemand klar umrissen ist, das Geschehene erkennen können.“

Dieses „Geschehene“ waren die Anfänge der „Arisierung“. Für die in den 30er Jahren in Deutschland lebenden Juden bedeutete die nationalsozialistische Wortschöpfung Beschlagnahmung ihres Eigentums und Ausschluss aus dem Wirtschafts-, Arbeits- und Kulturleben. Im Grunde aber war der Begriff „Arisierung“ das Synonym für staatlich organisierten Raub ohne strafrechtliche Verfolgung auf dem Boden des Deutschen Reichs und allen angeschlossenen und besetzten Ländern. Der gesamte, sich ab 1933 über Jahre hinziehende Vorgang wurde nicht verheimlicht und musste es auch nicht werden. All dies geschah öffentlich. Das Unrecht wurde für jedermann sichtbar in Gesetze und Verordnungen gegossen.

Die Arisierung des Besitzes deutscher Juden war jedoch nicht nur eine schwere Straftat, eine widerrechtliche, oftmals gewaltsame Aneignung fremden Besitzes. Die Maßnahmen trafen die über Jahrhunderte immer wieder Verfolgungen ausgesetzte jüdische Minderheit in ihrem Innersten. Das Wirtschaftsleben war in Zeiten der äußeren Bedrohung immer auch ein Bereich der Zuflucht gewesen. Jüdische Geschäftsleute und Händler zogen sich in Krisenzeiten aus Furcht vor weiteren Diskriminierungen häufig weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück und versuchten durch Handel untereinander die Existenz ihrer Familien zu sichern. Jüdische Angestellte wiederum, die in Zeiten der Verfolgung ohne Arbeit waren, fanden zumindest vorübergehend bei Glaubensgenossen Lohn und Brot. Die eigene Metzgerei, die eigene Arztpraxis, die Buchhandlung oder das Familienunternehmen hatten deshalb für jüdische Kaufleute, Handwerker und Unternehmer einen besonderen Stellenwert. Sie verkörperten materielle Sicherheit. Die Arisierungsmaßnahmen machten diese Sicherheit zunichte. Weder befristeter Rückzug aus dem Geschäftsleben, noch Verschleierung der Eigentümerschaft, noch Verzicht auf Werbung oder stilles Abwarten und Hoffen schützten vor dem Zugriff des verbrecherischen Regimes.

Mehr noch zerstörte die „Arisierung“ das auf Kompetenz, Solidität und Kaufmannsehre gründende Vertrauensverhältnis zu nichtjüdischen Kunden, Patienten oder Mandanten und damit jeden wirtschaftlichen Handlungsspielraum. Der Vorgang der Enteignung war nicht nur zutiefst demütigend, sondern endgültig existenzbedrohend. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung der Verfolgten untereinander erwies sich bald als zwecklos, da jeder von ihnen der ökonomischen Vernichtung entgegensah. Die Betroffenen befanden sich in einer ausweglosen Situation. Als Optionen blieben nur Flucht, Versteck oder Selbstmord.

Auch im öffentlichen Dienst begann das menschenverachtende Stühlerücken unmittelbar nach Machtantritt der Nationalsozialisten. Ob staatliche Behörden, Universitäten, Schulen, aber auch Verbände und Organisationen - überall wurden die jüdischen Kolleginnen und Kollegen erst vereinzelt, mit der Zeit aber systematisch ihrer Ämter enthoben, freigestellt oder aus Leitungsgremien herausgewählt. Junge Akademiker freuten sich über plötzlich frei werdende Stellen, ältere Beamte über die neue Aufstiegsmöglichkeit.

Die auf Unrecht gegründete Übernahme von Posten, die geduldete Selbstbedienung, die Nötigungen und der erpresserische Erwerb von Besitztümern deutscher Juden zu Spottpreisen wurde im Laufe der Jahre zu etwas Alltäglichem. Indem die Mehrheit mitmachte, konnte sich jeder einreden, rechtens zu handeln. Ob Großunternehmer oder einfacher Arbeiter, Professor oder Hausfrau - die Bereicherung auf Kosten der jüdischen Minderheit fand schichtübergreifend statt - und das ganz ungeniert. In den Tageszeitungen dieser Jahre sprangen sie den Lesern sofort ins Auge: Anzeigen, in denen die Versteigerung von „jüdischem Besitz“ annonciert wurde. Nicht nur Kunstwerke und Schmuck, wie bis heute gerne unterstellt, um das Vorurteil vom „reichen Juden“ zu pflegen, sondern buchstäblich alles und das in riesigen Mengen: Hausrat, Möbel, Kleidung, Kinderspielzeug, Fahrräder, Bücher; einfach alles, was Vertriebene und Tote hinterlassen.

Niemand der Bedrohten durfte sein Eigentum jedoch einfach in Wohnung oder Haus zurücklassen. Jeder Haushalt von deutschen Juden war verpflichtet, eine Vermögensaufstellung einzureichen. Auch die Menschen auf den Deportationslisten, die zu diesem Zeitpunkt ohnehin kaum noch etwas besaßen - selbst sie mussten bis zur letzten Säuglingsflasche aus Jenaer Glas ihre verbliebenen Habseligkeiten auflisten.

Das Erschütternde bei der Durchsicht dieser Unterlagen ist deren ungewöhnliche Genauigkeit. Aus der Sorgfalt der Aufzählung und Präzision der Schrift sprechen Todesangst und Verzweiflung der Verfasser. Der Leser meint geradezu die bangen Fragen heraushören zu können, die sich die Menschen beim Auflisten stellten: Würde sich der bearbeitende Beamte vielleicht von der Korrektheit dieser Liste beeindrucken lassen? Lässt sich womöglich mit einem späten Einreichen der Liste der bevorstehende Abtransport hinauszögern? Fragen, für die sich in den Finanzbehörden niemand interessierte.

Doch wo sind all die akribisch aufgelisteten Dinge geblieben? Wo sind die Säuglingsflasche, das Silberbesteck, die Federbettdecken oder der Geschirrschrank schließlich hingekommen? Das Hab und Gut der vertriebenen und ermordeten Nachbarn, Freunde und Kollegen wechselte über in die Schubladen, auf die Esstische oder in die Wohnzimmer der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Viele profitierten vom Verbrechen an den deutschen Juden. Die Familie, die dank der deportierten jüdischen Familie eine größere Wohnung bekam; der Rechtsanwalt, der nun auch Mandanten hatte, die vor 1933 zu seinem jüdischen Kollegen gegangen wären, oder der Café-Besitzer, der durch die erzwungene Geschäftsaufgabe des jüdischen Herrenausstatters eine Filiale eröffnen konnte. Dass die Bereicherung an der Judenverfolgung tatsächlich quer durch alle Schichten ging, ist ebenfalls durch Listen belegt, genaue Kundenlisten der Auktionshäuser beispielsweise, wo die Versteigerungen der von Juden konfiszierten Gegenstände stattfanden.

Folgen der Demütigungen im Zuge der Arisierung waren nicht nur sozialer Abstieg und Verarmung. Weitaus folgenreicher für die deutsch-jüdische Minderheit als Ganzes war das Verstummen herausragender Führungspersönlichkeiten. Berufsverbote, Enteignung und Ausgrenzung beraubten die deutschen Juden ihrer öffentlichen Stimmen. Ob Verleger, Journalisten, Künstler oder andere gesellschaftlich und sozial engagierte Frauen und Männer: nur wenige hatten die Kraft und die Mittel, ihr Engagement aufrecht zu erhalten. Die letzte, unter dem Zwang des Regimes entstandene jüdische Organisation, die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“, war mit Beginn der letzten größeren Auswanderungswelle nach 1938 und den 1941 einsetzenden Massendeportationen zur Rolle eines Sterbebegleiters der jüdischen Gemeinschaft verurteilt.

Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in einem beispiellosen Gewaltrausch Hunderttausende Glasscheiben eingeschlagen wurden, Möbel und Hausrat auf den Bürgersteigen zerbarsten, massenhaft jüdische Männer verhaftet, jüdische Frauen vergewaltigt wurden, die Synagogen in Flammen standen und die Schreie von misshandelten Menschen durch die Straßen hallten, stand die endgültige wirtschaftliche Vernichtung der in Deutschland lebenden Juden bevor.

In den Dörfern und kleinen Landstädten, der Heimat der jüdischen Landgemeinden, war das Zerstörungswerk bereits mit den Novemberpogromen vollendet. Ob Hessen, Franken oder Baden - die besonders in diesen Regionen angesiedelte, viele Jahrhunderte zurückreichende Lebenswelt des Landjudentums hatte ab diesem Zeitpunkt für immer aufgehört zu existieren. Auf dem Land war die Bedrohung schon weitaus früher so massiv geworden, dass viele der jungen Mitglieder der jüdischen Familien in die Städte umgesiedelt oder ausgewandert waren. Zurück blieben die Eltern, die Alten und Kranken. Über 2000 Landsynagogen brannten in der Novembernacht, wurden geschändet oder zerstört. Zeitgleich misshandelten Rollkommandos der SA und aufgepeitschte Dorfbewohner die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinden. Auf dem Dorf gab es kein Untertauchen oder Entkommen. Das gegenseitige Kennen, die oft Generationen zurückreichende Nachbarschaft oder die zuvor guten Geschäftskontakte - nichts davon galt noch etwas. Nur in Einzelfällen zögerte die persönliche Verbundenheit Gewalt oder Vertreibung hinaus. Mit Befriedigung und Stolz, so berichten Zeitzeugen, versahen zahlreiche Dorf- Bürgermeister in der Folgezeit die Schilder am Ortseingang mit der Aufschrift: „Dieses Dorf ist judenfrei!“ oder wahlweise „Juden sind hier nicht erwünscht!“.

Die Konferenz, die am 12. November 1938 hier in diesen Räumen stattfand und noch zwei weitere Folgetreffen nach sich zog, lieferte den juristischen Rahmen, für eine Art letzten, reichsweiten „Kehraus“. Dem Kompetenzgerangel und den Eigenmächtigkeiten auf den verschiedenen Behördenebenen und in Parteigliederungen sollte ein Ende gemacht werden. Die Wegbereiter der nationalsozialistischen Judenvernichtung gingen von jetzt an systematisch zu Werke. Das im Rahmen dieser Zusammenkünfte neben weiteren antijüdischen Sanktionen und harten Belastungen beschlossene Verbot der wirtschaftlichen Betätigung und die Zwangsarisierung des Immobilien- und Landbesitzes waren insbesondere für die seit Generationen mit der Scholle verbundene jüdische Landbevölkerung verheerend.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt war die vollständige Ausgrenzung und aggressive Verdrängung der Juden aus Deutschland unumkehrbar geworden. Die der Nazi-Ideologie innewohnende Aufforderung zu entschiedenem Handeln, zum entschlossenen Anpacken vermeintlicher gesellschaftlicher oder politischer Missstände, verlieh der antisemitischen Rassepolitik zusätzliche Dynamik. Eine Dynamik, im Zuge derer der Massenmord an über sechs Millionen Juden als geeignete, folgerichtige Form der politischen Problemlösung erschien.

Auf welche Weise die wirtschaftliche Vernichtung der in Deutschland lebenden Juden in Gang gesetzt und durchgeführt wurde, haben wir im Vortrag von Herrn Professor Wagner gehört. Die Nachwirkungen dessen, was damals von Göring, Heydrich und Gesinnungsgenossen beschlossen wurde, beschäftigt - einer langwelligen, untergründigen Dünung gleich - die deutsche Politik und Gesellschaft bis heute. Anschaulich werden diese Auswirkungen im großen Maßstab ebenfalls genau hier. Bis zum heutigen Tag war und ist die Berliner Mitte noch immer mit ungeklärten Vermögensfragen bei Liegenschaften durchwirkt. Wenn wir beispielsweise vom Haupteingang des Ministeriums in Richtung Leipziger Platz gehen, sehen wir auf dem Grundstück des früheren Wertheim-Kaufhauses einen großen neuen Geschäftskomplex. Die Wertheim-Erben konnten sich hier - mussten sich hier - mit Unterstützung der in New York ansässigen Jewish Claims Conference auf dem Klagewege eine Entschädigung erstreiten.

Diese Einigung wurde bekanntlich nicht etwa unmittelbar nach Kriegsende erzielt, sondern erst vor etwa zehn Jahren. Es ist der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu danken, dass auf der Grundlage des Einigungsvertrags die von der DDR verweigerte Rückerstattung von Teilen des enteigneten Eigentums jüdischer Deutscher wie im Falle Wertheim, vorgenommen werden konnte. Das nach wie vor himmelschreiende Unrecht der „Arisierung“ wird sich nie befriedigend im Sinne der Opfer oder deren Nachkommen lösen lassen. Immer wieder treten strittige Sachverhalte oder neuerliche Ungerechtigkeiten auf. All das hindert mich nicht daran, insbesondere Ihnen, sehr geehrter Herr Minister Schäuble, dafür zu danken, dass Sie sich als einer der Väter des Einigungsvertrages in Bezug auf die Rückerstattung des früheren Eigentums deutscher Juden für eine von der Hoffnung auf Ausgleich getragene Lösung eingesetzt haben.

Die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des „Dritten Reiches“ hat in den vergangenen 68 Jahren weit über diese jüngsten Regelungen hinausgehende Versuche unternommen, um das an den Deutschen jüdischen Glaubens begangene Verbrechen zumindest materiell zu kompensieren. Dieses Bemühen wird jedoch niemals mehr sein können als eine Annäherung an eine befriedigende materielle Regelung. Den Begriff „Wiedergutmachung“ zu akzeptieren, gliche einem Verrat an den Opfern. Niemals darf in Vergessenheit geraten, dass sich die sogenannte „Entjudung“ von Wirtschaft und Gesellschaft nicht auf den staatlich organisierten Raub von sogenanntem „jüdischen Vermögen“ beschränkte, sondern in die physische Vernichtung von Millionen Menschen mündete.

Der Tiefpunkt aller Menschlichkeit erfolgte in den Konzentrations- und Todeslagern, wo begleitend zum Massenmord die letzten Schritte der umfassenden ökonomischen Verwertung der europäischen Juden vollzogen wurden. Dabei erwies sich die Tarnung der Gaskammern als Duschen in doppelter Hinsicht als Vorteil: Die ahnungslosen Männer, Frauen und Kinder, die nach der Selektion direkt ins Gas geschickt wurden, gerieten nicht in Panik und mussten sich zudem nackt ausziehen. Letzteres erleichterte das Einsammeln und die Weiterverwertung wirtschaftlich interessanter Gegenstände, die die Todgeweihten am Körper trugen: Künstliche Gliedmaßen, Koffer, Brillen, Haarbürsten, Schuhe und Kleidung.

In Auschwitz beispielsweise verluden die Häftlinge diese allerletzten Habseligkeiten der vergasten Menschen vom sogenannten „Effektenlager“ in die zuvor auf dem Hinweg mit Menschen beladenen Viehwagons. Täglich verließen bis zu 20 Züge, beladen mit dem letzten Besitz der Häftlinge, das Lager in Richtung Berlin. Hier wurden die geraubten Gegenstände an die Dienststellen der SS und der Wehrmacht zum Weiterverkauf überstellt oder direkt an die Bevölkerung verteilt.

Teil dieser Lieferungen waren auch die Hinterlassenschaften derer, die für den Verbleib im Lager ausgesondert worden waren. Auch diese Menschen mussten sich von allem, was sie am Leibe trugen, entledigen und erhielten im Tausch die zerlumpte Häftlingskleidung inzwischen vergaster Lagerinsassen. Ob als Opfer medizinischer Menschenversuche, Zwangsarbeiter außerhalb des Lagers oder Geschundene in lagereigenen Werkstätten und Betrieben - Ziel war immer, die Häftlinge möglichst vollständig auszubeuten. Auch die von den Sonderkommandos aus den Gaskammern gezogenen Leichen waren noch von erheblichem wirtschaftlichem „Nutzen“: Als Lieferanten von Zahngold, Echthaar für die Herstellung von Perücken, Garn und Filz, Fettgewebe zur Fabrikation von Seife oder auch menschlicher Haut als Bezug für Lampenschirme. Die nicht mehr weiter verwertbaren menschlichen Überreste landeten in den Krematorien.

In mehreren Lagern gelang sogar noch die Verwertung der Asche. Die Verwaltung von Auschwitz beispielsweise schloss einen lukrativen Vertrag mit einer österreichischen Firma, die die Asche der Häftlinge zu Dünger verarbeitete und ihrerseits weiterverkaufte. Das Unternehmen ist heute im Bereich der Biogasproduktion tätig.

Auch in der Todesfabrik Maidanek wurde die Asche der Verbrannten noch „nutzbringend“ im Straßenbau und als Dünger für die Felder und Gärten des Lagers verwendet. Im Spätsommer 1944, kurz nach der Befreiung des Lagers durch die Sowjets, schilderte ein BBC-Reporter die Situation vor Ort. Seine Londoner Kollegen weigerten sich zunächst, den Bericht zu senden, weil der Inhalt so unfassbar schien: “Am anderen Ende des Lagers“, so berichtete der schockierte Journalist, „türmten sich große Hügel aus weißer Asche: Wenn man näher hinsah, stellte man fest, dass es nicht nur Asche war. Man fand Unmengen kleiner menschlicher Knochen; Schlüsselbeine, Fingerknochen, Schädelstücke und sogar einen kleinen Schenkelknochen, der nur von einem Kind stammen konnte. Jenseits dieser Hügel war eine abschüssige Fläche, auf der in großen Mengen Kohl gepflanzt war. Es waren große Kohlköpfe, überdeckt von weißem Staub. Irgendjemand sagte: "Eine Lage Dünger, eine Lage Asche - so wurde es gemacht ..." All diese Kohlköpfe wuchsen in menschlicher Asche ... Die SS-Leute aßen die Kohlköpfe gern, und die Gefangenen aßen sie ebenfalls, obwohl sie wussten, dass sie binnen kurzem höchstwahrscheinlich gleichfalls Dünger für diesen Kohl von Maidanek sein würden(…)“

Die mit menschlicher Asche gedüngten Kohlköpfe von Maidanek: Sie sind die perverse letzte Konsequenz der Arisierungs-Maßnahmen, die am 12. November 1938 hier in diesem Raum des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums beschlossen wurden. Was als eine der größten Umverteilungen von Vermögen in der Wirtschaftsgeschichte seinen Anfang nahm, mündete in eine Kreislaufwirtschaft mit geradezu kannibalistischen Zügen. Tiefer kann ein zivilisiertes Volk, kann eine zivilisierte Gesellschaft nicht sinken.

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