Rede von DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises



An dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen und Herren, standen in den vergangenen Jahrzehnten große, bedeutende Persönlichkeiten unserer Geschichte. Ob Bundeskanzler, Bundespräsidenten, Schriftsteller oder Verleger, sie alle verband und verbindet das gemeinsame Engagement für die Aussöhnung zwischen Juden und Nichtjuden. Sie alle kämpften und kämpfen unermüdlich gegen Antisemitismus und Fremdenhass in unserer Gesellschaft. Sie alle setzten und setzen sich für eine offenere, tolerantere, menschlichere Bundesrepublik Deutschland ein. Sie alle, meine Damen und Herren, haben Vorbildliches für ein friedliches Miteinander geleistet.

Dass ich heute vor Ihnen stehen und mich in die Riege so ehrenwerter Preisträger wie Richard von Weizsäcker, Johannes Rau, Helmut Kohl, Roman Herzog, Ralph Giordano, Joschka Fischer oder Angela Merkel einreihen darf, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und ehrlicher Demut. Dass ich als erster Vertreter des Fußballs die Auszeichnung entgegennehmen darf, ist für mich eine besondere Freude und Ehre, die ich teilen möchte. Teilen mit all denen, die im Abseits wirken. Ich stehe vor ihnen als Präsident des Deutschen Fußball-Bundes und als Stellvertreter für all diejenigen, die sich auf und neben den Fußballplätzen tagtäglich für ein tolerantes Zusammenspiel aller einsetzen. Die genau hinschauen, wo sich andere abwenden. Die anpacken, wo andere abwinken. Die aufstehen, wo andere sitzen bleiben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese hochkarätige Auszeichnung ist eine wunderbare Würdigung der verantwortungsvollen Rolle, die der Fußball mittlerweile in unserer Gesellschaft spielt. Dieser Preis und das Vermächtnis Leo Baecks ist aber auch ein zusätzlicher Ansporn für den Fußball, nicht nachzulassen in dem Bestreben, den gegenseitigen Respekt und die Mitmenschlichkeit als verbindliche Spielregeln für alle weiter zu etablieren. Und - das sage ich aus tiefstem Herzen - dieser Preis ist gleichwohl eine Mahnung an den Fußball, nicht und niemals tatenlos zuzuschauen, wenn auf irgendeinem Bolzplatz, in irgendeinem Stadion oder irgendeinem Vereinsheim die Toleranz mit Füßen getreten wird.

Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit, Verständnis und Verständigung, Toleranz und Akzeptanz, Rücksicht und Respekt. All das sind Werte, die der Fußball, die wir, den Kindern genauso vermitteln müssen wie ein korrektes Zusammenspiel auf dem Rasen. Wir wollen sportlichen Wettbewerb, ja. Wir wollen den Leistungsgedanken fördern. Aber noch viel mehr als die Trophäen und Titel wollen wir ein menschliches Miteinander. Fairplay ist weit mehr als nur ein Sportbegriff. Fairplay muss eine Selbstverständlichkeit im Bewusstsein aller Menschen werden. Eine fest verankerte innere Grundüberzeugung, die an keinen geografischen, religiösen oder kulturellen Grenzen halt macht.

Lassen Sie mich, verehrte Damen und Herren, an dieser Stelle von meinem letzten Besuch in Israel berichten. Vor etwa einem Jahr besuchten wir mit einer Delegation des Deutschen Fußball-Bundes anlässlich der 60-Jahr-Feier des Staates Israel das Heilige Land. Borussia Mönchengladbach bestritt damals unter dem Motto „Goals for Peace“ ein Freundschaftsspiel. Eine Autorennationalmannschaft war mitgereist, die – sie werden es mir verzeihen – von Texten ein bisschen mehr verstand als von Taktik. Und als Vertreter der Jugend haben wir damals unsere U18-Nationalmannschaft mitgenommen, die wir in Zukunft regelmäßig zu einem Winterturnier nach Israel schicken wollen.

Warum machen wir das, wird mancher fragen. Die Antwort ist einfach: Weil es wichtig ist. Weil es wichtiger ist als ein Trainingslehrgang in irgendeiner Sportschule. Auf solchen Reisen lernen diese jungen Menschen etwas über den Fußball, aber vor allem für das Leben. Sie lernen anschaulicher und unmittelbarer als irgendwo sonst etwas über die so unfassbaren, abscheulichen Verbrechen, die von ihrem Heimatland ausgegangen sind. Und sie lernen etwas über die gesellschaftliche Verantwortung, die sich auch aus dieser Vergangenheit für jeden einzelnen ableitet. Deutscher Nationalspieler zu sein bedeutet auch, sich der deutschen Geschichte bewusst zu sein. Die Reisen nach Israel machen vielleicht nicht aus jedem Talent einen besseren Fußballer, aber vielleicht aus einigen Teenagern bessere Menschen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich an die Israel-Reise zurückdenke, dann erinnere ich mich vor allem sehr gerne an die israelischen und palästinensischen Kinder im Peres Centre for Peace. Kaum irgendwo wird so anschaulich deutlich, wie spielerisch der Fußball Brücken zwischen den Kulturen bauen kann. Über das ganze Land verteilt kommen in einem Schulprogramm israelische und arabische Kinder aus umliegenden Dörfern zusammen, um miteinander Fußball zu spielen. Sie lernen voneinander und übereinander. Sie jubeln und ärgern sich zusammen. Es entsteht Gemeinschaft, manchmal sogar Freundschaft und grenzenloses Vertrauen, wo der Staat und die Politik sehr häufig an ihre Grenzen stoßen.

Miteinander reden ist die Grundvoraussetzung, um sich zu verstehen. Und nichts auf dieser Welt ist besser geeignet, Dialog zu schaffen, als der Fußball. Egal, welche Sprache jemand spricht, welcher Religion oder Kultur er angehört - auf dem Rasen gelten für alle dieselben Spielregeln und Bedingungen. Diese zutiefst demokratische Ausrichtung des Fußballs über den Sport hinaus zu vermitteln, empfinde ich nicht nur als unsere Verpflichtung, sondern als unsere zentrale Verantwortung. Sich dieser Verantwortung zu stellen, ist unsere Aufgabe.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Ihnen versichern, dass der DFB diese Aufgabe ernst, sehr ernst nimmt. Wir freuen uns natürlich über die sportlichen Erfolge unserer Nationalmannschaften bei den Frauen und Männern. Es ist uns Bestätigung, dass wir gerade von der UEFA für die beste Nachwuchsarbeit in Europa ausgezeichnet wurden. Aber wir wollen diese Erfolgserlebnisse und die Kraft der Emotionen gleichwohl nutzen, um weit über den Moment des Siegerjubels hinaus nachhaltig in andere Bereiche unserer Gesellschaft zu wirken. Wir brauchen sportliche Helden um unseren vielen Helden des Alltags Identifikation und praktische Hilfestellung geben zu können.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle eines unserer Projekte vorstellen, das mir besonders am Herzen liegt. In Erinnerung an den von Nazis umgebrachten jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch vergeben wir jedes Jahr einen Preis an Vereine, Projekte und Menschen, die sich in vorbildlicher Weise gegen Antisemitismus und Fremdenhass einsetzen. Wir wollen damit an die unfassbare Leidensgeschichte eines aufrichtigen Mannes erinnern, der nach Auschwitz verschleppt wurde und nicht mehr zu Frau und Kindern zurückkehrte. Wir wollen damit aber auch ein Zeichen für die Gegenwart setzen. Der Preis soll motivieren, mitzumachen. Sich zu engagieren, im Gedenken und im Namen von Julius Hirsch gegen Diffamierung und Verfolgung einzutreten.

In diesem Jahr haben wir in Hannover die „Löwenfans gegen Rechts“ ausgezeichnet. Eine kleine Gruppe bewundernswerter, couragierter Menschen, die den rassistischen und diskriminierenden Parolen auf der Tribüne nicht länger tatenlos zuhören wollten. Die Laudatio hielt damals Andreas Hirsch, der Enkel des Namensgebers für den Preis. „Ich bin ein Fan der Löwen-Fans“, sagte er. Dann sprach er einen sehr bewegenden Satz. „Wenn mein Großvater zuschauen könnte, wäre er bei dieser Preisverleihung sicher aufgestanden.“ Ein schöneres Kompliment, eine aufrichtigere Anerkennung konnte es für die Löwenfans und ihr Engagement gegen Rechts nicht geben.

Unsere Gesellschaft braucht diese mutigen Menschen. Unser Land braucht Zivilcourage, immer noch und manchmal mehr denn je. Und wir müssen diese Vorbilder für alle sichtbar machen. Wer aufsteht, darf nicht alleine dastehen. Gleichzeitig müssen wir natürlich auch viel früher ansetzen und alles dafür tun, damit es erst gar nicht zu verbalen Entgleisungen und gewalttätigen Übergriffen kommt. Prävention ist ein wichtiger, ein wesentlicher Bestandteil unserer Verbandsarbeit. Aufklären, wie es die in Kooperation mit der „Zeit“ aufgelegte Internetinitiative „Netz-gegen-Nazis“ macht. Aufeinander zugehen, wie es unsere vielen Schulprojekte oder unser Integrationspreis fördern und fordern. Bei all unseren Aktivitäten bleibt das Ziel immer dasselbe: Wir wollen Mädchen und Jungen, Deutschen und Türken, Juden und Moslems ein gemeinsames Spielfeld geben. Ausgrenzung hat bei uns keinen Platz.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß sehr wohl, dass noch nicht jeder die integrative Kraft des Fußballs und die Notwendigkeit, sie zu nutzen, erkannt hat. Bei manchem herrscht immer noch die Meinung vor, ein Verband solle sich vorrangig oder ausschließlich dem Spiel widmen. Nein. Wer so denkt, der verkennt die Strahlkraft und gesellschaftliche Verantwortung des Fußballs. Wer so denkt, verkennt schlichtweg unsere Aufgabe. Wenn wir als Verband die einzigartige Chance haben, vor allem den jungen Menschen einen vorurteilsfreien Umgang mit Anderen, Fremden aufzuzeigen, dann müssen wir sie mit aller Kraft nutzen. Wir dürfen niemanden den rechten Rattenfängern überlassen, wir dürfen extremistisches Gedankengut nicht tolerieren. Wir dürfen nicht nur Zuschauer sein. Wir müssen uns bewegen, weil wir etwas bewegen können.

Mein sehr verehrten Damen und Herren. Wir feiern in diesem Jahr das 60-jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Wir feiern 20 Jahre Mauerfall. Es ist nach den Schrecken des Holocaust viel bewegt worden auf dem Weg zu einer werteorientierten Gesellschaft. Es gibt einiges, auf das dieses Land durchaus stolz sein kann. Aber es gibt keinen Grund, sich auszuruhen oder nachzulassen. Eine Gesellschaft ist immer verführbar, damals wie heute. Wir müssen wachsam bleiben und dürfen kein Vergessen zulassen, gerade weil immer weniger Holocaust-Überlebende mahnend das Wort erheben können. Unsere Gesellschaft braucht auch in Zukunft ein hohes Maß an Sensibilität für die unduldbaren Leugnungen oder Verharmlosungen der Schoah.

Ich weiß sehr wohl, dass der Fußball keine heile Welt ist. Auch heute noch begleiten einige unbelehrbare Neonazis unsere Nationalmannschaft. Immer noch gibt es Übergriffe rechter Gruppierungen auf den Fußballplätzen unseres Landes. Ja, es gibt sie noch, die grölenden Wirrköpfe, die auf dem Weg ins Stadion verbale Züge nach Auschwitz schicken. Wir dürfen davor nicht die Augen verschließen und müssen als wahre Fußballfans dafür kämpfen, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass nichts, rein gar nichts in unserem Sport zu suchen haben. Bei allem Werben um Toleranz sage ich eines ganz deutlich: Bei rechten Parolen hört die Toleranz auf. Wer so denkt, stellt sich ins Abseits.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Rolle unseres Verbands während der Naziherrschaft eingehen. Viel zu lange wurde über dieses dunkle Kapitel deutscher Fußballgeschichte geschwiegen. Viel zu lange wurde verdrängt und eine Aufarbeitung vermieden. Wir haben uns spät, im Rückblick sicher zu spät, mit den eigenen Versäumnissen, Verfehlungen und Verbrechen an der Menschlichkeit beschäftigt. „Fußball unterm Hakenkreuz“ ist der Titel einer von uns in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Publikation, die sich kritisch mit dieser Fragestellung auseinander setzt. Es ist ein Buch, das uns immer wieder an unsere Verantwortung erinnern sollte.

Es ist beschämend, wie jüdische Vereinsmitglieder aus der Fußballfamilie ausgegrenzt wurden. Wie honorige Männer Demütigung erfahren mussten. Lassen Sie mich an Walther Bensemann erinnern, der früher als die meisten anderen den Fußball als Mittel der Völkerverständigung begriff und zeitlebens Spiele zwischen Vereins- und Auswahlmannschaften aus verschiedenen Ländern organisierte. Später gründete er die bis heute bestehende Fachzeitschrift „Kicker“. Oder Kurt Landauer, der als Präsident zusammen mit dem ebenfalls jüdischen Trainer Richard Dombi den FC Bayern München 1932 zur Deutschen Meisterschaft führte. Dank seiner unerschütterlichen Liebe zum Verein kehrte Landauer nach dem Holocaust zurück nach Deutschland und übernahm erneut die Führung des Klubs.

Andere jüdische Spitzensportler wie Julius Hirsch oder Gottfried Fuchs haben im deutschen Nationaltrikot gespielt und gekämpft. Sie standen für dieses Land auf dem Platz, und sie bekommen in den Geschichtsbüchern jetzt den Platz, der ihnen und ihrer Lebensleistung gerecht wird. Sie sind Leitfiguren des deutschen Fußballs, in jeder Hinsicht. Und sie stehen stellvertretend für die vielen jüdischen Spieler, die einfach nur Spaß an unserem wunderbaren Sport hatten und in der Gemeinschaft Fußball spielen wollten. Viele unserer Sportkameraden wurden auf bestialische Art ums Leben gebracht. Weil andere wegschauten, weil sich plötzlich niemand mehr für die Mannschaftskollegen einsetzte. Weil Zusammenhalt plötzlich nicht mehr zählte.

Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt sagte Leo Baeck in New York, und ich zitiere: „Für uns Juden in Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden könnten. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.“

Ich wünschte, dieser großartige Mann und bewundernswerte Mensch könnte heute hier sein. Ich wünschte er könnte sehen, wie viele Juden und Deutsche es heute gibt, die in seinem Namen dafür eintreten, dass die Verständigung, der tolerante Umgang der Kulturen und Religionen keine Illusion bleiben muss. Ich fühle mich geehrt, daran teilhaben zu dürfen. Als Präsident des Deutschen Fußball-Bundes stehe ich dafür ein, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Denn es ist ein richtiger, es ist ein wichtiger Weg. Nein, es ist der einzige Weg in eine verständnisvollere, menschlichere Zukunft.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, kann die Gegenwart verändern. Und nur wer sich in der Gegenwart engagiert, kann in die Zukunft wirken. In diesem Sinne nehme ich diese ehrenvolle Auszeichnung sehr gerne entgegen. Ich tue das mit großem Dank und großem Respekt. Und ich möchte sie teilen mit jedem Fußballer und jeder Fußballerin, jeder Zuschauerin und jedem Fan, jedem Sportler und jedem Sportbegeisterten, der diesen Weg mit mir gegangen ist und ihn auch weiter mit mir geht.

Ich danke Ihnen.

Es gilt das gesprochene Wort

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