Rede der Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch



„Jeder, an dem der Geist der Menschen Wohlgefallen findet, an dem findet auch des Allgegenwärtigen Geist Wohlgefallen." So steht es geschrieben in den Sprüchen der Väter. Wer Paul Spiegel kannte, wer das Glück hatte, mit ihm arbeiten zu dürfen, wer ihn gar als seinen Freund bezeichnen durfte, der weiß, wie sehr der Menschen Geist an diesem Mann Wohlgefallen gefunden hat. „Wieder zu Hause?" – so hat Paul Spiegel seine Erinnerungen überschrieben. Das Fragezeichen am Ende muss ihn geschmerzt haben. Gerne hätte er es wahrscheinlich durch ein Ausrufezeichen, besser noch durch einen schlichten Punkt ersetzt – schließlich sollte jüdisches Leben in diesem Land eine Selbstverständlichkeit sein.

Und dennoch musste am Ende dieser drei Worte ein Fragezeichen stehen. „Wieder zu Hause?"

Ja, er war wieder zu Hause. Er hat dieses Fragezeichen gesetzt, um es für sich selbst deutlich zu bejahen. Er ist zurückgekommen, nachdem er an der Hand der Eltern vor den Nazi-Häschern fliehen musste.

In diesem Land hat er seine ersten beruflichen Schritte unternommen, zunächst als Journalist und Pressesprecher, um sich dann mit seiner Künstleragentur selbstständig zu machen. Hier hat er seine liebe Frau Gisèle gefunden, sie geheiratet und mit ihr eine Familie gegründet. Und in diesem Land hat er seine beiden Töchter Dina und Leonie, deren fürsorglicher Vater er gewesen ist, aufwachsen und ihre eigenen Schritte gehen gesehen.

Es ist seine ureigenste, gewissenhaft überlegte Entscheidung gewesen, dies alles in Deutschland erleben zu wollen. Auch wenn der junge Paul Spiegel zunächst nicht verstehen konnte, warum es seinen Vater nach der Befreiung ins heimatliche Warendorf zurückgezogen hat.

Paul Spiegel entdeckte seine Heimat neu, er glaubte an eine gemeinsame Zukunft in Deutschland – und er glaubte an ein Miteinander zwischen Juden und Nichtjuden. Er hat diskutiert, gestritten und gekämpft für dieses Miteinander.

Er hat dies – ohne Rücksicht auf die eigene Person – aus Liebe zur jüdischen Gemeinschaft und aus Liebe zu Deutschland getan. Paul Spiegel war Anwalt aller Juden und er war überzeugter und überzeugender Demokrat, dem es eine Herzenssache war, dieses Land mitzugestalten, es weltoffen und tolerant zu halten.

Und doch musste er vor einigen Jahren mit Erschrecken feststellen, dass Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus längst auch bei den so genannten „Intellektuellen, in akademischen Kreisen" zur Tagesordnung gehören und eben nicht nur – wie er es formulierte – bei „einfach gestrickten Menschen, die ihre Vorurteile am Stammtisch pflegen."

In einem seiner letzten Interviews bekannte er gar, am selben Punkt zu sein wie sein Vorgänger Ignatz Bubis sel. A. und das Gefühl zu haben, nichts bewirkt zu haben: „Du kannst also machen, was du willst, du erreichst nichts", formulierte er damals.

Wie froh hätte es uns alle gemacht, wenn Paul Spiegel diese Erkenntnis erspart geblieben wäre.

Dem war nicht so. Im Gegenteil: Sie, verehrter Herr Bundesinnenminister, haben am Montag den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2005 mit neuen, erschreckenden Zahlen vorgestellt. Sie warnen vor der erheblichen Gefahr, die von gewaltbereiten Rechtsextremen ausgeht. Rechts motivierte Straftaten sind im vergangenen Jahr um 27 Prozent gestiegen, rechtsextremistische Gewalttaten um 23 Prozent.

Meine Damen und Herren,

es ist im Sinne Paul Spiegels hiergegen anzukämpfen. Wir Demokraten dürfen den rechten Banden unser Land nicht überlassen.

In Deutschland darf es keine Regionen oder Orte geben, in die sich Menschen mit dunkler Hautfarbe oder mit einer Kippa auf dem Kopf nicht wagen sollten.

Noch ist es nicht zu spät, initiativ zu werden. Zu handeln, wo andere lamentieren. Wir Demokraten wollen uns dieses Land nicht kaputt machen lassen. Wir haben den Hass, der zu Menschenverachtung führt, schon einmal erleben müssen. Wir wollen diesen Hass nie wieder erleben.

Die traurige Feststellung Paul Spiegels erklärt auch das Fragezeichen im Titel der Autobiographie: Immer wieder musste er sich dem hässlichen Antlitz des Antisemitismus gegenüber sehen. Eine Auseinandersetzung, die Kraft gekostet hat. Und dennoch hat sich Paul Spiegel ihr gestellt.

Nicht, weil es das war, was vom Präsidenten des Zentralrats erwartet wird. Sondern weil Schweigen Paul Spiegel mit sich, seiner Biographie, seinem Menschsein nicht hätte vereinbaren können.

Wie immer und so oft er konnte, hat er das Gespräch gesucht, Chancen ausgelotet und Perspektiven eröffnet. Mit Zurückhaltung hat er seiner Position mehr Nachdruck verliehen, als es mit lauten Protesten möglich gewesen wäre.

Er wolle keine „moralische Instanz" sein, hat er zu Beginn seiner Amtszeit erklärt. Er ist eine moralische – ich möchte hinzufügen: eine geachtete, moralische – Instanz in unserem Land geworden. Paul Spiegel hat sich nicht nach dieser Rolle gedrängt, die Menschen – unabhängig von ihrer Religion und ihrem Stand – trauten ihm vielmehr diese schwere Aufgabe zu. Sie vertrautem ihm. Weil alle spüren konnten: Paul Spiegel ist ein aufrichtiger Mensch. Einer, der zuhören, und einer der mitfühlen kann.

Nie hat er seine Freundlichkeit, seine Herzensgüte, schon gar nicht seinen Humor verloren. Mit seiner Darstellung des feinsinnigen jüdischen Humors hat er oft seine Gesprächspartner für sich und unsere Sache einnehmen können. Ich kenne niemanden, dem es gelungen ist, Brücken zu seinen Dialogpartnern nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit Humor und Herzlichkeit zu bauen.

Sehr verehrte Anwesende,

wir haben ihn erlebt als Wegbereiter der Renaissance des Judentums in Deutschland. Eine Renaissance, die keiner von uns, die wir das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte überlebt haben, jemals zu träumen gewagt hätte.

Paul Spiegel hat sich auf seine eigene Art, ebenso besonnen wie beharrlich, für diese Renaissance stark gemacht. Unter seiner Führung ist es zum Abschluss des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat gekommen.

Dieser wichtige Schritt sichert die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Noch unsere Kinder und deren Kinder werden mit der Gewissheit dieses Vertrages ihr Judentum leben und genießen, ihren Glauben und die jüdische Tradition weitergeben können.

Verehrte Anwesende,

Paul Spiegel hat den Zentralrat als politische Repräsentanz der Juden in Deutschland aufgestellt für die Zukunft. Mit Weitsicht und klarer Analyse ist es ihm gelungen, diesem Gremium Perspektiven zu eröffnen, die zugleich Perspektiven für unseren jüdischen Alltag sind.

Mit seiner Weichenstellung hat es Paul Spiegel dem Zentralrat ermöglicht, das Gespräch mit den drei abrahamitischen Religionen zu suchen: Unser Glaube ist unsere Versicherung im Hier und Heute. Er hilft uns, den stolzen Individualismus mit seiner häufigen Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Fragen zu überwinden. Die Religion macht uns unserer humanen Verantwortung bewusst. Diese Ethik basiert in der abendländischen Kultur auf der Thora, der jüdischen Gesetzgebung, die auch der Stifter des Christentums übernommen hat.

Deshalb muss die jüdische Gemeinschaft den Dialog mit den christlichen Kirchen intensivieren. Und uns allen muss es gelingen, den Islam einzubinden. Nur wer mit seinem Gegenüber spricht und diskutiert, kann – auch über Trennendes hinweg – Gemeinsamkeiten finden, die das Fundament für eine friedliche Zukunft bilden.

Die Zuwanderung unserer Glaubensschwestern und -brüder aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion war ein weiteres Arbeitsfeld, dem sich Paul Spiegel gewidmet hat. Gleichwohl dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist, konnte er in diesem Bereich wesentliche Punkte klären und Ausgleich schaffen.

Bei allen Debatten und beim Ringen um Formulierungen hat Paul Spiegel nie vergessen, dass wir dabei über Menschen sprechen. Menschen, die in der Hoffnung zu uns kommen, hier ein neues Leben beginnen zu können. Menschen, die in unserem Land – oft zum ersten Mal in ihrem Leben – Grundrechte wie religiöse und persönliche Freiheiten genießen wollen.

Letztlich sind es diese Menschen, die mit dafür sorgen, dass unsere Gemeinschaft im Wachsen begriffen ist. Eine Tatsache, die Paul Spiegel mit großer Freude und Stolz erfüllte.

Denn dieser Prozess vitalisiert zusätzlich den wachsenden kreativen Austausch zwischen jüdischer und deutscher Kultur – ein Blick in die Geschichte zeigt, wie mannigfaltig und erfolgreich dieser Austausch einmal gewesen ist und wie entscheidend die jüdische Kultur am internationalen Ansehen dieses Landes mitgewirkt hat. Jetzt erhält dieser Austausch durch den Zuzug zahlreicher qualifizierter Fachleute und Akademiker neue, belebende Impulse.

Natürlich sind die jüdischen Gemeinden die ersten Anlaufstellen für die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Den Gemeinden vor Ort obliegt es, die Neuankömmlinge in den Glauben, in die Gemeinschaft und letztlich auch in die bundesdeutsche Gesellschaft zu integrieren. Diese ehrenvolle Aufgabe wird gerne übernommen – ist sie doch eine Investition in unsere Zukunft, eine Wiederbelebung der jüdischen Kultur und des jüdischen Geisteslebens.

Paul Spiegels Ziel war es die jüdische Gemeinschaft aus ihrer oft selbst erwählten Zurückgezogenheit in den letzten Jahrzehnten herauszuführen. Juden in Deutschland begreifen sich mehr und mehr als selbstverständlichen Teil dieser Gesellschaft.

Diesen Weg müssen wir weitergehen!

Deshalb muss sich unsere Gemeinschaft im besten Wortsinne „selbst bewusst" werden. Wir müssen entscheiden, wie wir unser jüdisches Selbstverständnis in diesem Land, unserer Heimat, leben wollen.

Paul Spiegel hat mit seinem Leben und Wirken uns hierbei einen wesentlichen Schritt vorwärts gebracht. Wir alle – seine Weggefährten, seine Freunde, seine Familie – profitieren von dieser Entwicklung.

Wir wollen daher gemeinsam seinen Weg fortführen. Wir wollen Chancen erkennen und nutzen, wo andere Berge von Problemen sehen. Diese Einstellung zum Leben und zur Arbeit ist Paul Spiegels Vermächtnis.

Er hat sich nicht nur ein Denkmal gesetzt durch sein Wirken, seine Persönlichkeit und seine Ausstrahlung. Paul Spiegel wird uns immer im Gedächtnis bleiben als ein heiterer, hilfreicher und lebenskluger Mensch, für den das Wort Freund ein fester Bestandteil in seinem Leben war.

Verehrte Frau Spiegel, liebe Gisèle, liebe Dina, liebe Leonie, wir alle trauern mit Ihnen um diese grosse Persönlichkeit.

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