"Ort der Begegnung"



Foto: Jörn Neumann

Rede des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, zum 175-jährigen Bestehen der ehem. Synagoge Niederzissen, 4.9.2016

Anrede,

heutzutage leben Juden in Deutschland vor allem in größeren Städten, zum Beispiel in Köln und Düsseldorf oder in Frankfurt und München. Dort finden sie auch eine jüdische Infrastruktur vor: einen jüdischen Kindergarten und jüdische Grundschulen, eine jüdische Volkshochschule, jüdische Alters- oder Pflegeheime und koschere Lebensmittelläden.

Doch das war nicht immer so. Und die ehemalige Synagoge in Niederzissen ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel: Im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland Hunderte von kleinen jüdischen Gemeinden mit Synagogen, Friedhöfen und rituellen Tauchbädern. Auch am Rhein wurden in dieser Zeit viele jüdische Gotteshäuser ihrer Bestimmung übergeben – wie im September 1841 die Synagoge in Niederzissen. Für die sogenannten Landjuden aus dem Kreis Ahrweiler war sie religiöser und sozialer Mittelpunkt ihres Lebens. Ein Ort, an dem man betete, sich austauschte und den Zusammenhalt untereinander stärkte.

Wie in ganz Deutschland und letztlich fast ganz Europa bereiteten die Nationalsozialisten auch dieser kleinen jüdischen Gemeinschaft ein Ende. Während der Reichspogromnacht 1938 wurde die Synagoge Niederzissen zwar nicht in Brand gesteckt, aber im Inneren zerstört und entweiht. Die Juden aus Niederzissen wurden deportiert und ermordet.

Die Jüdische Gemeinde war gezwungen worden, die Synagoge zu verkaufen. Sie wurde über Jahrzehnte als Schmiede genutzt.

Und wenn ich mir die Fotos anschaue, die vor rund 15 Jahren vor der Restaurierung gemacht wurden, dann kann ich rückblickend nur sagen: Respekt!

Respekt für Ihren Mut, diese Restaurierung anzugehen, und Respekt für Ihre Leistung, aus diesem einst – man muss es so sagen – heruntergekommenen Gebäude ein solches Schmuckstück zu machen!

Eine jüdische Gemeinde gibt es in Niederzissen nicht mehr. Umso schöner finde ich es, dass die ehemalige Synagoge dennoch wieder ein Ort der Begegnung geworden ist.

Heute finden hier Vorträge und Konzerte statt oder Schüler machen hier Ausstellungen mit eigenen Kunstwerken.

Und auch über das Museum vermitteln der Kultur- und Heimatverein und der Förderverein Niederzissen viel Wissen über das Judentum. Hier ist ausgestellt, was von der früheren jüdischen Gemeinde des Ortes noch zu finden war: Die Handschriften, gedruckten Bücher und Torawimpel aus der Genisa Niederzissen legen Zeugnis ab von einem reichen und erfüllten jüdischen Leben auf dem Land.

Doch die Ausstellung endet nicht mit dem Jahr 1945. Und das möchte ich besonders loben. Sie präsentieren auch das moderne heutige jüdische Leben. Gerade dieser Aspekt, das Judentum als Teil unserer Gesellschaft, kommt leider in vielen Museen zu kurz. Besonders gut gefällt es mir als Vorstandsmitglied der Kölner Synagogengemeinde natürlich, dass meine Gemeinde als Beispiel für das heutige jüdische Leben gewählt wurde. Das werden Sie verstehen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade in der heutigen Zeit sind solche Orte wie diese ehemalige Synagoge so wichtig. Denn das Zusammenleben der Religionen stellt eine riesige Herausforderung für Deutschland dar. Es sollte unser aller Ziel sein, gegenseitige Vorurteile abzubauen und stattdessen Brücken aufzubauen. Vorurteile basieren häufig auf Unwissenheit. Was fremd ist, macht Angst. Mit Bildung und Kultur, mit Kennenlernen und gemeinsamen Erleben können wir am besten dagegen angehen.

Nach 1945, nach der Shoa und den Erkenntnissen über das NS-Regime verwundert es, dass eine populistische Partei wie die AfD es bei der Landtagswahl hier in diesem Wahlkreis auf nicht ganz 10% Stimmen bringt und landesweit auf 12,6% Stimmenanteil kommt. Die Prognosen für das Ergebnis heute in Mecklenburg-Vorpommern sagen einen Anteil von fast 25% voraus. Es stellt sich daher für die jüdische Gemeinschaft die Frage, sind dies reine Protestwähler gegen die etablierten Parteien und Angstwähler auf Grund des immensen Flüchtlingstromes? Oder haben diese Menschen wirklich nichts aus ihrer Geschichte gelernt? Hier an dieser Stelle, zu unserem freudigen Ereignis und zu Menschen sprechend, die sich ihrer Geschichte stellen und sie akzeptieren, möchte ich keine weiteren Mutmaßungen und Vorwürfe äußern.

Authentische Orte wie diese ehemalige Synagoge oder Begegnungen mit Zeitzeugen helfen beim Verständnisaufbau. Inzwischen ist die Zahl der Überlebenden der Shoa sehr klein geworden. Doch auch deren Kinder und Enkel sind für junge Leute interessante Gesprächspartner. Gerne kann die Synagogengemeinde Köln behilflich sein, um solche Gespräche zu vermitteln.

Denn nur, wenn wir überall in der Republik – in den Städten und auf dem Land – den respektvollen Umgang mit anderen Religionen, mit Minderheiten oder mit Ausländern üben, nur dann werden wir unsere offene, freiheitliche und tolerante Gesellschaft erhalten.

Hier in Niederzissen wird dazu bereits ein kleiner, aber umso wichtigerer Beitrag geleistet. Daher möchte ich vor allem dem Kultur- und Heimatverein Niederzissen und dem Förderverein ehemalige Synagoge ganz herzlich danken! Ebenso gilt mein Dank der Kommune, dem Landkreis und dem Land Rheinlandpfalz für ihre Unterstützung.

Ich wünsche Ihnen - auch im Namen unseres Präsidenten Dr. Josef Schuster - weiterhin viel Erfolg und Elan bei ihrer Arbeit sowie genügend Bürger, die sich an der Arbeit beteiligen. Und allen Besuchern der ehemaligen Synagoge Niederzissen wünsche ich frohe und fruchtbringende Begegnungen.

Ich danke Ihnen!

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