"Niemand wird als Antisemit geboren"



Interview mit Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster, RP online, 18.5.2017

Foto: David Berkowitz Wikimedia Commons, CC BY 2.0

Würzburg. Den Juden in Deutschland bereitet es zunehmend Sorge, dass unter den Flüchtlingen viele antisemitisch eingestellte Menschen sind. Auch deshalb engagieren sie sich bei der Integration, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Interview.

Die Zuwanderung in die jüdischen Gemeinden ist nach dem Ende der Sowjetunion abgeebbt. Wie ist jetzt die Situation der Juden hierzulande?

Seit 2005 gibt es nur noch eine geringe Zuwanderung. Und zuvor waren es viele Ältere. Uns fehlen also die jungen Erwachsenen. Das ist nicht nur ein Problem des Judentums. Wir versuchen mit speziellen Angeboten, diese Altersgruppe besser an uns zu binden. Zudem können wir davon ausgehen, dass neben den 100.000 Mitgliedern in jüdischen Gemeinden noch einmal eine nicht unerhebliche Zahl an Juden in Deutschland lebt, ohne Mitglied in einer Gemeinde zu sein. Das hat unterschiedliche Gründe.

In Berlin sind viele junge Israelis als Touristen zu sehen. Erleben Sie Ähnliches auch in Ihren Gemeinden?

Israelis, die nur für eine gewisse Zeit in Deutschland leben, werden in der Regel nicht Mitglied einer Gemeinde. Viele von ihnen kennen aus Israel auch eine Gemeindestruktur nicht. Aber für jene Israelis, die auf Dauer in Deutschland bleiben, versuchen wir Angebote zu entwickeln.

Die Großeltern sind aus Deutschland geflüchtet, ihre Enkel finden das Land attraktiv. Was bedeutet das für das jüdische Selbstverständnis?

Es ist festzustellen, dass die Generation, die sich aus verständlichen Gründen mit Deutschland sehr schwer tat, nahezu nicht mehr besteht. Für die Israelis von heute ist Deutschland nicht das Land von 1933. Das zeigt sich an dem großen Interesse junger Menschen, selbst nach Deutschland zu kommen.

150.000 Juden stehen Millionen Muslime in Deutschland gegenüber.

Diese Situation kennen wir ja nun seit längerem. Ich würde im Großen und Ganzen von einem friedlichen Nebeneinander sprechen. Was in unserer Gemeinschaft allerdings seit 2015 Sorgen macht, ist der Fakt, dass unter den als Flüchtlinge nach Deutschland gekommenen arabischen Muslimen viele sind, die in ihrer Heimat über Jahrzehnte antisemitisch indoktriniert wurden. Umso größer ist jetzt die Herausforderung, diesen Menschen die Werte nahezubringen, die unser Zusammenleben in Deutschland bestimmen – vom Existenzrecht Israels bis zur Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Gibt es einen Konflikt zwischen Kopftuch und Kippa? Sollten Juden muslimische Wohnviertel meiden?

Juden sind generell in der Öffentlichkeit zurückhaltend, sich als Juden zu erkennen zu geben. Das gilt in Gegenden, wo Rechtsextreme dominieren ebenso wie in stark muslimisch geprägten Gegenden.

Nach neuen Studien ist der klassische Antisemitismus auf dem Rückzug, dafür der Antizionismus auf dem Vormarsch. Spüren Sie das auch?

Ja, das nimmt zu. Immer häufiger wird "Israel" gesagt, wenn "Juden" gemeint sind. Es geht ja gar nicht darum, dass man keine Kritik an Israel äußern darf – die meisten Kritiker der israelischen Politik finden sich vermutlich in Israel. Es geht darum, dass man mit Israel-Kritik politische Korrektheit suggeriert, obwohl sich dahinter immer häufiger alte Stereotypen und Hass verbergen. Es wäre sehr sinnvoll, im Bundeskanzleramt einen Antisemitismus-Beauftragten zu installieren. Die Antisemitismus-Forschung zeigt immer wieder Handlungsempfehlungen auf, die dann in den Schubladen verschwinden. Das darf mit dem vor kurzem veröffentlichten Antisemitismusbericht des Unabhängigen Expertenkreises nicht passieren. Wir brauchen einen Beauftragten, der die Entwicklung ständig im Blick behält, die Verantwortung für politische Initiativen hat und Ansprechpartner ist.

Auch Deutschland gehört zu den Israel-Kritikern, etwa bei Grenzanlagen und Siedlungen.

Man muss nicht mit allen Entscheidungen Israels einverstanden sein. Allerdings redet es sich aus 3500 Kilometern Entfernung über vieles sehr leicht. Was wäre wohl in Deutschland los, wenn aus der Nachbarschaft immer wieder Raketenangriffe und Selbstmordattentäter kämen. Sicherlich würde von der Regierung hier dann auch erwartet, etwas zum Schutz der Bevölkerung zu tun.

Wie lässt sich verhindern, dass bei neuen Konflikten im Nahen Osten die Stimmung auf deutschen Straßen wieder eskaliert?

Wichtig ist zum einen, dass man bei den Menschen, die jetzt zu uns gekommen sind, dieses Thema aktiv angeht. Das gilt es, in den Integrationskursen ganz klar aufzuarbeiten. Machen wir uns nichts vor: Integration dauert nicht ein Jahr, sondern eine Generation. Zum anderen müssen wir auch mit den Migranten arbeiten, die bereits in der zweiten oder dritten Generation hier leben. Hier sind vor allem die Schulen gefordert. Niemand wird als Antisemit geboren. Vorurteile werden von den Eltern und über einige arabische Medien weitergegeben. Dagegen müssen wir ankämpfen.

Was sagen Sie zu der Behauptung der AfD, sie stünde an der Seite der Juden?

Diese These leitet die Partei ja daraus ab, dass sie sich sehr heftig gegen Muslime wendet. Aber die Rechnung "der Feind meines Feindes ist mein Freund" geht nicht auf. Wir sehen Muslime nicht als unsere Feinde. In der Flüchtlingshilfe zum Beispiel sind bis heute auch jüdische Gruppen aktiv. Gerade erst hat sich der Zentralrat der Juden mit dem Zentralrat der Muslime in einem gemeinsamen Seminar darüber ausgetauscht. Die Behauptung, die AfD stehe an der Seite der Juden, wirkt auf mich mehr als geheuchelt. So ist es den Verantwortlichen bislang nicht gelungen, sich von Parteimitgliedern, die sich antisemitisch geäußert haben, etwa in Baden-Württemberg, zu distanzieren. Ich halte durch die jüngsten Entscheidungen für Herrn Gauland als Spitzenkandidaten auch Herrn Höcke für eher gestärkt als geschwächt. Wenn wir Juden auf die von der AfD angebotene "Freundschaft" wirklich angewiesen wären, gehörte ich zu den Ersten, die empfehlen würden, Deutschland zu verlassen.

Wie schaut man als jüdischer Deutscher auf das deutsche Luther-Jahr? Der Reformator war ja nicht frei von Antisemitismus.

Ich halte es für völlig verständlich, dass die evangelische Kirche in Deutschland das Reformationsjahr zu Ehren ihres Kirchenstifters begeht. Ich empfinde es als sehr positiv, dass die Kirche die dunklen Seiten Luthers nicht verschweigt, sondern die schwarzen Punkte in seiner Vita aufzeigt und sich davon distanziert. Sie macht das sehr verantwortungsvoll.

Gregor Mayntz führte das Interview.

 

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