Mit einer Stimme - Seit 65 Jahren ist der Zentralrat die politische Vertretung der Juden in Deutschland



Foto: Thomas Lohnes

Es gab damals keinen Festakt. Es war auch kein Politiker zugegen. Am 19. Juli 1950 trafen sich einige wenige jüdische Repräsentanten in einer Frankfurter Privatwohnung und gründeten einen Verband. Welche Zukunft dieser Verband in Deutschland haben würde, war ungewiss.

Er war notwendig geworden: Es galt, für die neu entstandenen jüdischen Gemeinden eine politische Interessenvertretung zu gründen. Jemand musste sich um die sozialen Belange der jüdischen Gemeinschaft kümmern. Die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsverhandlungen hatten begonnen – und die Politik fragte zunehmend nach Ansprechpartnern auf jüdischer Seite.

Es war viel Pragmatismus und wenig Euphorie im Spiel, als vor 65 Jahren der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet wurde. Verwunderlich war das nicht, nur fünf Jahre nach der Schoa. Eine sehr kleine Schar Überlebender hatte damit begonnen, jüdische Gemeinden wieder aufzubauen. Die DP-Camps wurden geschlossen. Der Staat Israel war gegründet worden. Viele Juden verließen das Land der Täter. Auch viele Gemeindemitglieder konnten für Deutschland verständlicherweise keine Heimatgefühle (mehr) aufbringen. Sie betrachteten ihren Aufenthalt als vorübergehend.

Aus der Vorläufigkeit sind mittlerweile 65 Jahre geworden. Und heute können wir sagen: Wir blicken dankbar zurück und selbstbewusst nach vorne! Dankbar sind wir allen voran unseren Gründervätern. Dass sie nach allem, was geschehen war, den Mut und die Energie aufbrachten, eine deutschlandweite jüdische Interessenvertretung ins Leben zu rufen, war nicht selbstverständlich. Und sie trafen eine sehr kluge Entscheidung: Sie ließen den jüdischen Gemeinden ihre Autonomie. Der Zentralrat bildete lediglich das Dach. So ist es bis heute.

Auch wenn damals wohl kaum einer der jüdischen Repräsentanten die Absicht hatte, eine auf Dauer angelegte jüdische Gemeinschaft in Deutschland aufzubauen, erwies sich diese Gemeindeautonomie doch letztlich als entscheidende Voraussetzung genau dafür. Denn jüdische Gemeinden waren auch schon vor dem Krieg sehr unterschiedlich und sehr selbstständig. Sie waren in ihrer jeweiligen Region verwurzelt. Eine jüdische Gemeinde in Hamburg tickte anders als eine jüdische Landgemeinde in Bayern.

Nach dem Krieg waren zwar von den Alteingesessenen kaum noch welche übrig. Viele Juden aus Osteuropa kamen hinzu und veränderten die Gemeindestrukturen. Doch auch, um sich neu zusammenzufinden, war die Autonomie der Gemeinden wichtig. In den Gemeinden herrschte zunächst die orthodoxe beziehungsweise traditionelle Ausrichtung vor. Später bildeten sich auch liberale Gemeinden. Sie alle konnten unter dem Dach des Zentralrats der Juden ihren Platz finden. Ohne ausreichenden Freiraum für die Gemeinden wäre dies nicht möglich gewesen.

So versteht sich der Zentralrat bis heute: Wir bilden das Dach über den Gemeinden. Wir wollen jedoch nicht ein Dach sein, das irgendwo über den Gemeinden schwebt. Nein, unser Dach ist mit dem Haus fest verbunden. Das Fundament bilden die Gemeinden.

Für sie ist der Zentralrat mit zahlreichen Angeboten ein verlässlicher Partner: Wir haben für unsere jungen Leute die Organisation der Jewrovision – des jüdischen Tanz- und Gesangswettbewerbs für Jugendliche – übernommen. Alle Gemeindemitglieder von Jung bis Alt dürfen sich angesprochen fühlen, wenn wir zum Gemeindetag einladen. 2016 wird das wieder der Fall sein.

Ebenso unterstützen wir in vielfältiger Weise die Gemeinden beim Mitzvah Day. Dank der Initiative des Zentralrats beteiligen sich immer mehr Gemeinden an diesem jüdischen Aktionstag für soziales Handeln. Direkt profitieren die Gemeinden auch von Seminaren der Bildungsabteilung und von Integrationsförderungen des Zentralrats. Für unsere Veteranen haben wir zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland einen Festakt in Berlin ausgerichtet – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Ein gutes Dach bietet aber auch Schutz. Eine zentrale Aufgabe des Zentralrats ist daher die Vertretung der Interessen der Gemeinden nach außen, in die Politik und Gesellschaft. Von Anfang an standen die Türen der Politik für den Zentralrat offen. Das ist so geblieben. Erst jüngst besuchte Bundespräsident Joachim Gauck die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die vom Zentralrat getragen wird.

Die jüdische Gemeinschaft ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gewachsen. Auch dafür sind wir sehr dankbar. Erst durch die jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion konnte sich ein so reges Gemeindeleben entwickeln, wie es sich vor 65 Jahren niemand vorgestellt hätte. Vor allem aber sind wir dankbar, dass wir seit 70 Jahren in einem demokratischen Rechtsstaat und mit weiter Akzeptanz in der Gesellschaft sicher hier leben können. Diese Erfahrung unterscheidet uns von den Gründern des Zentralrats. Es ist für uns daher viel leichter, mutig in die Zukunft zu blicken.

Es gab zwar in all diesen Jahrzehnten Antisemitismus, Anfeindungen, Bedrohungen und Übergriffe. Es gibt all dies weiterhin. Doch davon lassen wir uns nicht einschüchtern. Die jüdische Gemeinschaft gehört zu Deutschland. Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird ihre Interessen auch in den kommenden Jahrzehnten vertreten, selbstbewusst und mit Zuversicht.

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