Laudatio von Prof. Dr. Hajo Funke bei der Verleihung des Paul-Spiegel-Preises für Zivilcourage an Andrea Röpke, 17.6.2015, in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf



Sperrfrist: Mittwoch, 17. Juni 2015, 17.00 Uhr (MESZ)

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Frau Giséle Spiegel, sehr geehrte stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann, sehr geehrter Herr Dr. Schuster, verehrte Anwesende,

liebe Andrea Röpke,

ich danke Ihnen, Herr Dr. Schuster, für die Einladung, die Laudatio für Andrea Röpke zu halten.

In Ihrer Begründung für die Preisverleihung betonen Sie Andrea Röpkes Hartnäckigkeit und Zivilcourage. Andrea Röpke hat seit einem Vierteljahrhundert, die Hälfte ihres Lebens und den größten Teil ihres Erwachsenenlebens und oft gegen den Widerstand auch aus der Politik die Präsenz und die Gefahr von Alt- und Neonazis in nahezu unglaublicher Beharrlichkeit erforscht, aufgedeckt und präsent gemacht.

Paul Spiegels Verständnis von Zivilcourage

Dies ist ohne Zivilcourage und auch das Risiko für Leib und Leben nicht denkbar. Kaum jemand wusste dies so genau wie Paul Spiegel. Als vor 15 Jahren nach dem Attentat auf diese Synagoge und auf jüdische Zuwanderer in Düsseldorf-Wehrhahn der Aufstand der Anständigen ausgerufen wurde, hat Paul Spiegel von denen, die in Deutschland das Wort führen, den Anstand der Zuständigen eingefordert – und für sich zusammen mit Karsten-Uwe Heye und Michel Friedman umgesetzt und den Verein Gesicht zeigen für ein weltoffenes Deutschland gegründet.

Andrea Röpkes Kritik am geheimen Netzwerk der Alt- und Neonazis: Stille Hilfe für braune Kameraden

Paul Spiegel trat sein Amt an, als Andrea Röpke mit Oliver Schröm zusammen den Inside-Report Stille Hilfe für braune Kameraden. Über das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis schrieb. Ein wichtiges und einflussreiches Buch. Ihr Anliegen ist es, die Geschichte der „Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e.V.“ zu erzählen: wie diese als mildtätiger Verein getarnte Naziorganisation gleich nach Ende des Zweiten Weltkrieges seine Arbeit aufnahm und wie deren Mitglieder diskret, aber wirkungsvoll die Fäden im braunen Netzwerk zogen.

Sie zeichnen darin die ideologischen Spitzen des heutigen Neonazismus nach und führen die Spuren zurück auf die alte Garde um Adolf Hitler. Die beiden Autoren schildern detailliert, wie die NS-Massenmörder Alois Brunner und Klaus Barbie im Zusammenspiel von Geheimdiensten und Naziorganisationen untertauchen konnten. Anhand spektakulärer Fälle wie dem des Erich Priebke, dem Buchhalter des Todes aus Rom zeigen sie die Versäumnisse der deutschen Justiz auf und machen deutlich, auf welchem gesellschaftlichen Nährboden der heutige Rechtsextremismus hatte entstehen können. Dieses Buch ist bis heute ein einzigartiges Dokument darüber, dass wir den heutigen gefährlichen gewaltbereiten Neonazismus und Rechtsextremismus so nicht hätten, hätte nicht die Nachkriegsrepublik die „Stille Hilfe“ der NS-Gewaltverbrecher und SS-Ideologen nicht so lange zugelassen, erlaubt und vor allem gefördert.

Andrea Röpke hat dieses Thema während ihres politikwissenschaftlichen Studiums an der Universität in Bremen entdeckt. Abseits des Mainstreams auch der dortigen Politikwissenschaft hatte sie die Seminare des von ihr so geschätzten Dozenten Horst Biesold besucht, der über die unerkannten Aufarbeitungslücken in Nachkriegsdeutschland lehrte. Sie kam eher zufällig darauf, dass es ein halbgeheimes Netzwerk dieser stillen Helfer auch und gerade in der Region gab, in der sie lebte und vertiefte sich von den frühen neunziger Jahren an nahezu ein Jahrzehnt in dieses Thema. Sie sprach die Mitglieder dieses Netzwerks und ihre Freunde und nahm auf, wie sie in ihrem Nationalsozialismus nach dem Nationalsozialismus lebten, fühlten und sich organisierten. Sie begann damit auch methodisch ein einzigartiges wissenschaftliches Werk der empirischen Feldforschung, zunächst in einer Diplomarbeit zum gleichen Thema, dann in der mit Oliver Schröm gemeinsam verfassten Veröffentlichung.

Damit ist am Beispiel der Virulenz neonazistischer Gewaltbereitschaft zugleich ein Stück der Geschichte der Republik nachgezeichnet: Dieses Buch handelt über die Abgründe politischer Un-Kultur in Nachkriegsdeutschland und ihren Wirkungen für eine in Westeuropa einzigartige neonazistische Gewaltszene, die erst mit dem Auffliegen der NSU Mordserie wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt ist.

Es fügt sich in ihr Engagement und ihre Konsequenz, dass sie zusammen mit ihrem Kollegen Andreas Speit eine für die Ideologie und Politik des nationalsozialistischen Untergrunds ähnlich breit rezipierte Studie über „Blut und Ehre“. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland über das B&H Terrornetzwerk und damit auch über das NSU Netzwerk verfasst hat. In dieser Studie wird die Geschichte des rechten Terrors in der Republik und des Versagens des Verfassungsschutzes offen gelegt.

In den letzten 15 Jahren erschien eine Fülle von äußerst einflussreichen Monographien, Fernsehdokumentationen und die öffentliche Diskussion beeinflussenden Artikeln und Interventionen, die durch ihre jeweilige empirische Präzision und ihre Unerschrockenheit bestechen. Und von denen ich nur einige nenne: 2008 erscheint die zusammen mit Andreas Speit verfasste Arbeit: „Neonazis in Nadelstreifen: Die NPD auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft“ (Berlin 2008); 2011 ebenfalls mit ihrem Kollegen und Freund Andreas Speit: „Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene“ (Berlin 2011), der Dokumentarfilm über „braune Kameradenfrauen in der Neonazi-Szene“ und schließlich wiederum mit Andreas Speit Blut und Ehre. 2015 veröffentlichte sie "Gefährlich verankert", worin sie über die gefährliche Graswurzelarbeit der Neonazis in Mecklenburg-Vorpommern berichtet.

Heimattreue Deutsche Jugend

In den „Ferien im Führerbunker. Die neonazistische Kindererziehung der Heimattreuen Deutschen Jugend (aus dem Jahr 2007)“ klärt sie über den nationalsozialistischen Drill von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimattreuen Deutschen Jugend auf, in der auf einsamen Höfen oder in Zeltlagern Kinder und Jugendliche eine braune Parallelwelt erlebten und nationalsozialistisch sozialisiert wurden.[1] Kinder und Jugendliche wurden durch die Naturromantik und die angebotene Kameradschaft fasziniert - und nationalsozialistisch indoktriniert. Sie traf diese Kinder und die, die diese Kinder für ihre ideologischen Zwecke instrumentalisierten, veröffentlichte über sie und wurde deswegen von einem der Führer dieser Formation niedergeschlagen. Sie recherchierte diesen totalitären Umgang mit Kindern Mitte des letzten Jahrzehnts, 2005. Dabei weiß sie – wie wir - nicht, dass diese Zeit die Hochphase der Tätigkeit des NSU ist. Diese Zeit, Mitte des letzten Jahrzehnts, war trotz der Bemühungen um einen Aufstand der Anständigen und trotz der schließlichen Einweihung des Holocaustmahnmals geprägt von verbreiteten antisemitischen, fremdenfeindlichen Einstellungen und Gewalttaten - und von einer Zurückhaltung der Sicherheitsinstitutionen, deren Ausmaße wir erst später erfahren haben, sie angemessen anzugehen.

Im März dieses gleichen Jahres 2005 - 6 Jahre nach dem er von Ignatz Bubis das Amt des Präsidenten des Zentralrats übernommen hatte und ein Jahr vor seinem frühen Tod mit 68 Jahren - zieht Paul Spiegel eine skeptische Bilanz seines Wirkens: Er sieht die Hemmschwelle gegenüber antisemitischen Vorurteilen sinken, beklagt sich darüber, dass man die Einreise jüdischer Kontingentflüchtlinge einschränken wolle und bitter über die Äußerung des Bischofs von Köln, der Abtreibung und Holocaust gleichsetzt. Er spürt die aggressive Stimmung und beklagt sich - wie zuvor Ignatz Bubis in seiner Bilanz ein halbes Jahrzehnt zuvor. [2]

NSU-Aufklärung

Über die NSU-Mordserie dieser Jahre 2000-2007 handelte der Untersuchungsausschuss des Bundestags. In ihm wurde Andrea Röpkes Expertise angehört wie die keiner zweiten Person – ebenso in vier weiteren regionalen Untersuchungsausschüssen – in Bayern, in Hessen, in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg. In Bayern, wohin wir gemeinsam eingeladen worden waren, konnte ich beobachten, wie sie den Abgeordneten des Untersuchungsausschusses und der Öffentlichkeit Jahre der Recherche und Analyse ersparte und mir die Fragen abnahmen, die ich nicht beantworten konnte, aber sie.

Trotzdem, so füge ich an, kann man mit den Zwischenergebnissen der NSU-Aufklärung in inzwischen acht Untersuchungsausschüssen zufrieden sein, wenn wir je neu auf Aufklärungsblockaden stoßen? Die versprochene rückhaltlose Aufklärung auf sich warten lässt? Und es Bestrebungen gibt, die die Strukturen im Verfassungsschutz ohne eine vernünftige Kontrolle noch zu stärken, die durch deren „aus dem Ruder gelaufenen“ Einsatz gewalttätiger Neonazis als V-Leute und Spitzel Teil des Problems der Sicherheitskatastrophe der NSU Mordserie geworden sind?

Zivilcourage und Solidarität

Es ist fast ein Wunder, dass ihr nicht noch mehr angetan wurde. Sie ist angstarm, wenn nicht angstfrei. Sie kämpft um die Wahrheit der Vorgeschichte der Republik wie über die gewalttätigen Abgründe in ihr. Sie tut dies oft gegen die Institutionen, die eigentlich die Verfassung schützen – sie wurde über Jahre von niedersächsischen Verfassungsschutz beobachtet, bis ein neuer Innenminister, Boris Pistorius aus der SPD, das vor nicht allzu langer Zeit beendet hat. Andrea Röpke ist gerade deswegen aufklärerisch, weil sie nicht mehrheitsfähig ist und nicht dem Mainstream folgt, sondern so lange recherchiert, bis sie sich eine fundierte Meinung gebildet hat und dann weiter macht, auch wenn die Institutionen oder erst recht die extreme Rechte sie mit allen Mitteln zu blockieren versucht. Sie wird heute als Kämpferin für die Wahrheit und für eine offene Republik ohne Rassismus geehrt.

Verehrter Herr Dr. Schuster, sie haben darauf hingewiesen, sie braucht unser aller Solidarität wie die, die sie zu Recht in den letzten Jahren wegen ihrer unkonventionellen Zivilcourage in der Auseinandersetzung gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus geehrt haben.

Todeslager für Kinder. Wer versteht?

Andrea Röpke hat sich noch mit einem weiteren Thema schon in den neunziger Jahren auseinandergesetzt. Am 6. Mai 1999 wurde u.a. auf der Basis der Studien von Bernhild Vögel von „Panorama“ ein unter anderem von Andrea Röpke nach langen Recherchen verfasster Bericht über die Todeslager für Babys ausgestrahlt. Mit anderen dokumentierte sie ein Massenverbrechen an Babys von Zwangsarbeiterinnen aus Polen und Russland, durch das in 300 sogenannten „Entbindungsstätten“ – wenig bekannt - über 100.000 Babys ermordet worden sind. In dem Bericht zeichneten sie nach, wie den Müttern nach wenigen Stunden oder Tagen ihre Kinder entrissen und diese Kinder einem qualvollen Sterben durch Hunger, Verwahrlosung und Durst ausgesetzt wurden. Dies geschah an hunderten von kleinen und größeren Orten. Die tagelangen Schreie blieben den Anwohnern nicht verborgen. Ebenso wenig den Unternehmen, die die Zwangsarbeiterinnen wie bei VW oder Büssing in Wolfsburg oder Braunschweig, in Kelsterbach oder im Gantenwald bei Schwäbisch Hall unter Sklavenbedingungen ausbeuteten. Bis auf wenige Studien, unter anderem die von Andrea Röpke, war dies kaum ein Thema. Ebenso wenig eines der Strafjustiz – es wurde weithin beschwiegen. Auch hier verfolgte Andrea Röpke ihre einzigartige archäologische Rekonstruktionsmethode in den vielen kleinen und größeren Orten und traf auf die, die sich zu erinnern wussten und ebenso auf die, die mit schriller Abwehr reagierten. Mag sein, dass das Andrea Röpke, wie sie andeutete, in ihrer Arbeit am tiefsten erschüttert hat.[3]

Paul Spiegel, so hat er seiner eindrucksvollen Autobiografie „Wieder Zu Hause?“ anvertraut, hat in diesen gleichen Jahren 1942 und 1943 als Fünfjähriger seine Schrecken der Isolation und der Verwahrlosung erlebt. Er hat darüber in seiner Autobiografie wie aus einer Perspektive eines Kindes erzählen können. Das war, als er versteckt gehalten wurde, in einem Heim im von NS-Deutschland besetzten Belgien. Seine Mutter hatte sich gedanklich damit beide bessere Chancen zu überleben hätten – zeitweise von ihm trennen müssen. Paul Spiegel und seine Mutter überlebten das Hitler-Regime tatsächlich, seine ältere Schwester Rosa aber, "mein Roselchen", wurde ins KZ verschleppt und dort, 1942, ermordet. "Wer steckt ein Kind in einen Viehwaggon, damit es viele tausend Kilometer entfernt mutterseelenallein im Gas erstickt?", fragte er Jahrzehnte später voller Trauer. "Ich begreife es bis heute nicht." Die Familie kehrte, trotz allem, nach Warendorf zurück.(Spiegel)

Sysiphus

Andrea Röpkes unerbittlicher, nahezu erbitterter Kampf um die Aufklärung und Liberalität, um weniger Hass und Aggression hat Erfolge gebracht. Es ist eine Tätigkeit vor dem Hintergrund des Wissens um den durch Deutschland verübten Zivilisationsbruch im vernichtenden Weltanschauungskrieg des Zweiten Weltkriegs Hitlers, oft geführt im Bewusstsein, gegen den Mainstream anzureden, gegen den Rat, das doch sein zu lassen, im Bewusstsein einer Sisypha, die sich als glücklicher Mensch wahrnimmt:

Der Kampf um die Seele der Kinder ist nach dem Verbot der terroristischen HDJ für die von rechts bedrohten und mit den Informationen, die wir heute haben, stärker geworden. Das neonazistische Schulungszentrum Hetendorf ist geschlossen. Es macht einen Unterschied, ob man öffentlich gegen Ethnozentrismus und Vorurteile anrennt oder nicht. Ob die, die den Einfluss der Juden in Deutschland für zu groß halten, die hiesigen Muslime für eine Gefahr für Deutschland und es den Asylflüchtlingen auch gern mal zeigen würden, dies in ihren Wohnzimmern tun - oder ob sie sich durch Organisationen der Rechtsextremen und Rechtspopulisten mobilisieren und radikalisieren. Ob sie an ihren Stammtischen bleiben, oder mit dem Weckruf gegen Asylflüchtlinge wie in Dresden die Straßen erobern.

Verdient

Der öffentliche Kampf um weniger Aggressionen und Hass ist für eine Republik, die liberal bleiben will, existenziell und wird immer neu geführt werden. Andrea Röpke repräsentiert diesen Kampfesmut um die Republik. Sie gibt auch nicht auf, wenn sie sich in einer absoluten Minderheit sieht. Das macht ihre Zivilcourage aus. Und das hat sie mit Paul Spiegel, an den wir mit diesem Preis erinnern, gemein. Sie geht auf die Menschen zu wie Paul Spiegel, der es vermocht hat, in seine Heimatstadt Warendorf zurückzukehren, aus der er mit seiner Familie vertrieben worden ist; trotz der Tatsache, dass sein Vater unendlich gelitten hat und seine ältere Schwester in Auschwitz ermordet worden ist.[4]

Mehr noch: Sie gehört in die Tradition, die so beeindruckend von Heinz Galinski, Ignatz Bubis, Paul Spiegel, Charlotte Knobloch und Dieter Graumann als Repräsentanten des Zentralrats der Juden in Deutschland ebenso risikoreich wie verantwortungsvoll für das Gemeinwesen entfaltet worden ist. Es ist nicht zu wenig gesagt, wenn man nach all diesen Kämpfen sagt, dass ohne diese Tradition, ohne dieses Selbstverständnis des Zentralrats der Juden in Deutschland die Republik nicht nur ärmer, sondern weniger liberal wäre als sie es immer noch ist. Andrea Röpke wird für ihre unerschrockene, teils sehr gefährliche Analysearbeit vor Ort und in den Hinterzimmern geehrt.[5]

Andrea Röpke - die Politikwissenschaftlerin, die Journalistin und international anerkannte Publizistin – so uneitel bescheiden wie Paul Spiegel - hat im Wissen um diese Tradition der Zivilcourage den Paul-Spiegel-Preis 2015 verdient.

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[1] Auch durch den Druck dieser breit rezipierten Veröffentlichung von Andrea Röpke verbot schließlich der Bundesinnenminister 2009 diese Organisation. (Ich füge an, dass die alltagsterroristischen Kämpfe um die Kinder und ihre ideologische Gewalt-Ausrichtung sich bis heute antreffen lassen.)

[2] Der Spiegel schrieb 2006 über ihn: Nie wollte er eine "moralische Instanz" sein, aber er war sie doch auf seine so typische, liebenswerte, uneitle Art. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, so heißt das schwere Amt, das er seit Anfang 2000 im Land der Holocaust-Täter innehatte, mischte sich unaufgeregt, doch wortstark ein, wenn ihm die Lage "unerträglich" schien - als etwa der FDP-Grande Jürgen Möllemann Wählerstimmen heischend Israel attackierte oder der Kölner Erzbischof Joachim Meisner Abtreibungen mit den Verbrechen Hitlers oder Stalins verglich. Und er mahnte beständig vor jeder Form von Fremdenfeindlichkeit und einem Antisemitismus, der auch längst bei "Intellektuellen, in akademischen Kreisen" zu finden sei, nicht nur "bei einfach gestrickten Menschen, die ihre Vorurteile am Stammtisch pflegen".

Sein Vater, ein Viehhändler aus dem münsterländischen Warendorf, war von den Nazis in der Reichspogromnacht halbtot geprügelt worden, bis Kriegsende schmachtete er in drei Konzentrationslagern. Paul Spiegel und seine Mutter überlebten das Hitler-Regime versteckt im besetzten Belgien, seine ältere Schwester Rosa, "mein Roselchen", wurde von der Straße weg ins KZ verschleppt und dort, 1942, ermordet. "Wer steckt ein Kind in einen Viehwaggon, damit es viele tausend Kilometer entfernt mutterseelenallein im Gas erstickt?", fragte er Jahrzehnte später voller Trauer. "Ich begreife es bis heute nicht." Die Familie kehrte, trotz allem, nach Warendorf zurück, Spiegel wurde Journalist, Pressesprecher, dann gründete er in Düsseldorf eine Künstleragentur - einer seiner Klienten war Thomas Gottschalk. Als im August 1999 der charismatische Ignatz Bubis starb, war Spiegel als sein Nachfolger eher eine Übergangslösung, dachten viele. Doch in schwierigen Zeiten - Zehntausende Juden aus Osteuropa wanderten ein und mussten integriert werden - bewies er großes Geschick; zu seinen politisch wichtigsten Erfolgen zählte 2003 die Unterzeichnung des Staatsvertrages zwischen Deutschland und dem Zentralrat, der den jüdischen Gemeinden jährlich drei Millionen Euro zusicherte. Paul Spiegel, der laut Umfragen auch als Bundespräsident vorstellbar gewesen wäre, starb am 30. April in Düsseldorf. (Nachruf im Spiegel 2006)

[3] Panorama am 6. 5. 1999: „Gegen Volkswagen wurde gestern in den USA eine Sammelklage eingereicht. Es geht um einen ungeheuren Vorwurf. Die Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen bei VW wurden planmäßig langsam umgebracht. Mord durch Vernachlässigung. VW spricht in einer Stellungnahme von einem ‚tragischen Kapitel aus einer der dunkelsten Zeiten der modernen Geschichte‘.

Warum wussten davon bis heute nur wenige? Warum war nicht bekannt, daß es viele Unternehmen gab, die Vernichtungslager für Säuglinge unterhielten, in denen man die Babys der Zwangsarbeiterinnen qualvoll sterben – eigentlich muss man sagen: grausam verrecken ließ?““

[4] Dieser Preis ist seit seiner Auslobung erst dreimal verliehen worden: im Jahr 2009 dem damaligen Landespolizeipräsidenten des Freistaats Sachsen während mehrere Bits für seinen Kampf gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Bereich polizeilicher Prävention und Ermittlungsarbeit, im Jahr 2011 für das Künstlerehepaar Horst und Birgit Lohmeyer aus Jamel in Mecklenburg-Vorpommern für Menschen dies trotz einer Mehrheit den Rechtsextremen in diesem Ort nicht nur aus halten, sondern für eine andere offene Kultur werben und eintreten und schließlich 2013 an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus und die Initiative wir viel Glück T. D.h. für Initiativen und Personen, die quer zum mainstream unter hohem persönlichen Risiko trotz anderweitiger Mehrheiten sich sie sinnvolles gleich für die Anerkennung und Respekt von jedem Menschen kontinuierlich und beharrlich einsetzen. Andrea Röpke passt in diese junge ungewöhnliche kreative unkonventionelle risikobereite Tradition.

[5]Schon vor zehn Jahren wurde sie mit dem Journalistenpreis des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz geehrt, 2006 wurde sie Reporterin des Jahres durch das Medium Magazin, 2007 mit dem Leuchtturmpreis für besondere publizistische Leistungen ausgezeichnet, im folgenden Jahr mit dem Otto Brenner Preis für ihre Recherchen zum Thema Rechtsextremismus „als praktizierter Verfassungsschutz für ihre journalistische Nothilfe für Demokratie und Grundrechte“ gewürdigt; im folgenden Jahr war sie Finalistin im Wettbewerb des US-Außenministeriums für mutige Frauen; sie erhielt den alternativen Medienpreis und wurde 2012 durch Medium Magazin Journalistin des Jahres 2011.

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Anrede,

ich begrüße Sie ganz herzlich hier in der schönen...

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Paul Spiegel sel. A.

Dr. h.c. Paul Spiegel sel. A. war von 2000 bis 2006 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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