Laudatio von Paul Spiegel



Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, anlässlich der Verleihung des LEO-BAECK-PREISES 2003 am 17. September 2003 in Berlin an Dr. h. c. Ralph Giordano

Lieber Ralph, sehr geehrte Damen und Herren,

nachdem die Entscheidung des Zentralrats gefallen war, Ralph Giordano mit dem Leo-Baeck-Preis zu ehren, verbreiteten die Nachrichtenagenturen fast gleichlautende Meldungen. Überall war ein längeres Zitat aus der Würdigung zu lesen, die das Präsidium als Pressemeldung herausgegeben hatte. Giordano werde als „Autor und Journalist“, als „Mahner gegen Rechtsradikalismus und das Verdrängen des Holocaust“ geehrt; als „mutiger Streiter für Zivilcourage und Menschlichkeit und engagierter Werber für den Frieden in der Welt“ – so stand es in den Zeitungen und so wurde es von den Sendern verbreitet.

Als ich das alles las, sah und hörte, freute ich mich einerseits, dass Du, lieber Ralph, jetzt endlich die hochverdiente Auszeichnung bekommst. Andererseits fand ich diese großartigen Charakterisierungen zwar allesamt hundertprozentig zutreffend – doch zugleich auch sehr holzschnittartig. Umso mehr freute ich mich darauf, heute Gelegenheit zu haben, dieses vielleicht etwas zu sehr von Schlagworten geprägte Bild von Ralph Giordano mit feinerem Pinsel nachträglich um einige Details bereichern und ergänzen zu dürfen.

Wen auch immer man auf Ralph Giordano anspricht – jeder scheint ihn zu kennen. Bei näherem Nachfragen stellt sich aber dann heraus, dass die meisten Befragten ein erstaunlich festgefügtes Urteil über die Person Ralph Giordano haben. Für die einen ist er seit jeher der unbequeme Kritiker, der unruhige Störer, ja der notorische Querulant, der nichts auf sich bewenden lässt, besonders nicht die Vergangenheit. Zum Vergleich wird dann gern auf Heinz Galinski und dessen zurecht unerbittliche Haltung in Sachen NS-Vergangenheitsbewältigung und gegenüber eines wieder aufkeimenden Antisemitismus verwiesen.

Die anderen, weitaus sympathischeren Giordano-Kenner, sind diejenigen, die unseren Preisträger als Autor der „Bertinis“, seines größten literarischen Erfolges, kennen gelernt haben. Ralph Giordano verschwindet bei ihnen häufig hinter der eigentlichen Hauptfigur des Romans, dem jugendlichen Bertini-Sohn Roman, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Die Wirkung des Buches ist zum Teil so ausgeprägt, dass der Romanautor Giordano für das begeisterte Publikum gar nicht in Zusammenhang gebracht wird mit dem Publizisten Giordano, dem Sachbuchautor und ganz besonders dem so überaus sensiblen und kenntnisreichen Dokumentarfilmer.

Schließlich verdanken wir ihm neben vielen, vielen anderen Produktionen so eindrückliche und aufrüttelnde Sendungen wie „Heia Safari – Die Legende von der deutschen Kolonialidylle in Afrika“ oder „Slums – Hinterhof der Menschheit“, um nur zwei Beispiele heraus zu greifen.

Eine Buchhändlerin, die ich auf diese Beobachtung ansprach, bestätigte mir, dass viele Kunden, die eines der zahlreichen politischen Bücher von Ralph Giordano zur Hand nehmen, fast zeitgleich fragen, ob dies „der Giordano von den Bertinis sei“ oder sogar davon ausgehen, dass es einen Verfasser gleichen Namens gäbe. Ein interessantes Phänomen, das einiges über die Vielseitigkeit des Geehrten aussagt und einmal mehr bestätigt, dass er seine erfrischende Fähigkeit zu polarisieren nie eingebüsst hat.

Die Romanfigur Roman Bertini hat Millionen von Menschen, Leser wie Fernsehzuschauer, zutiefst angerührt. In etwa vergleichbar mit der Wirkung, die wir durch amerikanische Produktionen wie „Holocaust“ oder „Schindlers Liste“ kennen gelernt haben, ist die Hauptfigur in Giordanos großem Familienroman eine ideale Projektionsfläche. Die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der NS-Zeit kann bei den Bertinis mit Gesichtern, Schicksalen und Erlebnissen in Verbindung gebracht werden. Menschen jeden Alters, ob politisch oder unpolitisch, geschichtlich beschlagen oder ohne weitergehende Kenntnisse über die NS-Zeit – jeder, der über ein Minimum an menschlichem Empfinden verfügt, nimmt Anteil am Schicksal Romans und seiner Familie: Dem ereignisreichen Weg der Bertinis von Sizilien nach Hamburg, die mit der Machtergreifung 1933 immer bedrückender werdende Situation der Gebrüder Roman und Cesar am renommierten Hamburger Gymnasium Johanneum, die ersten Denunziationen und Diffamierungen, das Arbeitsverbot für die als Klavierlehrerin tätige Mutter. Meisterlich erzählt und für den Leser dadurch fast spürbar wird der Bewegungsradius der Familie immer kleiner, der staatliche Terror immer bedrohlicher. Ausgebombt und mehrfach verraten und verleumdet gelingt es der Familie, sich durch die Flucht in ein Versteck der Deportation zu entziehen.

Die Schilderung des Lebens oder besser Vegetierens der Bertinis in einem von Ratten verseuchten Kellerverschlag zählt sicher zu den eindrücklichsten Schilderungen dieser Art in der deutschen Literatur.

Die Bertinis überleben. Schwer traumatisiert registriert Roman den Neubeginn nach Kriegsende, die Verdrängung, den überall sichtbaren Opportunismus.

In all den Jahren seit Erscheinen des Buches hatte ich zuweilen den Eindruck, dass viele der begeisterten Leserinnen und Leser den im Klappentext erwähnten Hinweis, es handele sich bei den Bertinis um einen autobiographischen Roman, nur beiläufig wahrgenommen haben.

Die Geschichte war und ist so mitreißend, so voller Spannung und großartiger Szenen, dass die Frage nach dem Anteil an Fiktion leicht in Vergessenheit gerät. Eine gleichwohl nicht unwichtige Frage, denn tatsächlich, so empfinde ich es, geht das, was die Familie Giordano erlebt und vor allem erlitten hat, noch über die im Roman dargestellten Erlebnisse der Bertinis hinaus. Ein Umstand, den Ralph Giordano ganz bewusst in Kauf genommen, ja angestrebt hat. Er wollte keine Autobiografie schreiben. Seine Erlebnisse sollten gleichsam den Rohstoff für eine fiktionale Umsetzung liefern.

Während viele Schriftsteller bemüht sind, jede Parallele zwischen Leben und Werk zu leugnen oder tunlichst zu vermeiden, hat Giordano genau den umgekehrten Weg gewählt. Jede seiner Veröffentlichungen sind ein Teil von ihm und, wie man so sagt, „mit Herzblut“ geschrieben.

Die Abfassung der „Bertinis“ war eine Titanentat. Wenn ich mich recht erinnere, sind es rund vierzig Jahre gewesen, die vergehen mussten bis dieses Epos als gebundenes Buch vorlag. Ich sage ganz bewusst „mussten“, denn für Ralph Giordano war die Arbeit an seinem Hauptwerk, wenn ich es so nennen darf, eine Art Langzeittherapie.

Als langjähriger Freund wusste ich von dem Projekt, rechnete aber – heute kann ich es gestehen- kaum damit, dass es tatsächlich irgendwann zu einer Veröffentlichung kommen würde. Zu gewaltig schien mir das Vorhaben und zu groß der Schmerz, der beim Schreiben immer wieder ausgelöst wurde.

Ich verstand die „Bertinis“ aus diesem Grund eher als eine Chance für Ralph Giordano, den Überlebenden des Holocaust, seiner Erinnerung Herr zu werden, die immer wiederkehrenden Albträume zu bändigen, die zeitweise wie eine Flutwelle alle übrigen Gedanken verdrängenden Szenen aus der Vergangenheit einzudämmen und eine Art Ordnung in die Erinnerungsfetzen zu bringen. Schließlich wusste ich aus eigener Beobachtung nur zu gut, mit wie viel innerer Beteiligung er auch als Journalist seiner Arbeit nachging, aber beispielsweise auch als Prozessbeobachter der Auschwitz-Prozesse.

Später, als ich im Büro des Zentralrates der Juden in Deutschland, bei Generalsekretär Hendrik van Dam s. A. arbeitete, berichtete Ralph Giodano im Auftrag des Zentralrates über verschiedene Kriegsverbrecher-Prozesse. Eine Tätigkeit, die an die Grenze seiner Kraft ging. Ich war zutiefst beeindruckt von dem fast übermenschlichen Maß an Selbstbeherrschung, das er damals aufbrachte. Zugleich freute ich mich umso mehr für ihn, dass er offenbar einen Weg gefunden hatte, begleitend zu seinem beruflichen Engagement durch die Arbeit an den „Bertinis“ seine Vergangenheit aufzuarbeiten.

Entsprechend gerührt war ich, als das Buch dann doch noch erschien. Bis heute bewundere ich Dich, lieber Ralph, für diese Leistung und finde es großartig, dass dieses schwere Stück Arbeit zu einem so wunderbaren Ergebnis geführt und Dir noch dazu einen so großartigen Erfolg beschert hat.

Der psychologisch so tief gehende Prozess, den Ralph Giordano durch die Abfassung der Bertinis durchlief, war prägend für sein gesamtes schriftstellerisches Wirken. Auch als Außenstehender lässt sich erahnen, wie aufwühlend und zugleich entlastend es gewesen sein muss, das Schicksal der eigenen Familie, das unendliche Leid, die erlittenen Demütigungen bis hin zu der kaum fassbaren Gewissheit des Überlebens zu Papier zu bringen. So betrachtet ist der Versuch, schreibend über die Dinge zu kommen, wie Giordano es getan hat und hoffentlich noch lange tun wird, für den Schreibenden selbst Segen und Fluch zugleich. Zwei starke Empfindungen kämpfen miteinander: Dem Willen, den geradezu gigantischen Berg der Erinnerung mit all seinen Gefahrenstellen zu bewältigen, steht ein fast körperlich spürbares Gefühl der Erschöpfung, ja Lustlosigkeit gegenüber, sich all dem gar nicht mehr aussetzen, sondern einfach nur verdrängen zu wollen.

So betrachtet bin ich Ralph Giordano dankbar, dass er diesen Zustand der Erschöpfung immer wieder, unzählige Male überwunden und sich auch noch nach Jahrzehnten zur Disziplin gerufen hat. Nicht nur im Rahmen der Arbeit an den Bertinis, sondern auch in all den anderen Veröffentlichungen, in denen er auf der Grundlage des eigenen Erlebens nach Antworten sucht, Thesen formuliert und bohrende Fragen stellt. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, den Opfern eine Stimme zu geben und ein Sprachrohr für all jene Überlebenden zu sein, die sich nicht in so wortgewaltiger Form äußern können.

Tatsächlich war die Sprachlosigkeit der Millionen Ermordeten für Ralph Giordano einer der Gründe, warum er nach der Befreiung in Deutschland blieb. In einem Interview im Jahr 2000 antwortete er auf die Vermutung des Interviewers, dass es doch wahrscheinlich enorme Kraft gekostet habe, in Deutschland zu bleiben: „VOR DER BEFREIUNG WAR VÖLLIG KLAR“ so Giordano, „DASS WIR DEUTSCHLAND VERLASSEN WÜRDEN IM FALLE UNSERES ÜBERLEBENS. IN DEUTSCHLAND HABEN MICH DANN VIER DINGE GEHALTEN: ERST EINMAL – WAS SOLLTE AUS DEN MENSCHEN WERDEN, DENEN WIR UNSER LEBEN VERDANKEN? DAS ZWEITE WAR, DASS SICH GANZ SCHNELL GEZEIGT HAT, DASS HITLER ZWAR MILITÄRISCH, ABER NICHT IDEOLOGISCH GESCHLAGEN WAR. (...) MIR WURDE KLAR, DASS DIE FRONT MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS HIER VERLIEF, IN DEUTSCHLAND. ICH WÄRE MIR GEGENÜBER DEN OPFERN, DIE NICHT ÜBERLEBT HABEN, VORGEKOMMEN WIE EIN DESERTEUR.“ Als dritten Grund nennt Ralph Giordano seine Liebe zur deutschen Sprache und als vierten, den für ihn wichtigsten, dass ihm nach 15 Jahren des Einzelkämpferdaseins klar

geworden sei, dass ES „MILLIONEN DEUTSCHE GIBT, DIE GENAUSO DENKEN WIE ICH“.

Mit seinem Bekenntnis zur Existenz einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, im Land der Täter, stellt sich Giordano an die Seite all der Juden, die nach dem Ende des Krieges, nach der Rückkehr aus den Konzentrationslagern und Verstecken, teilweise sogar aus dem Ausland, zurück nach Deutschland, zurück in ihre Heimat kamen. Ein Entschluss, der bei vielen Juden in der Diaspora, besonders aber in Israel, auf völliges Unverständnis und massive Kritik stieß.

Sämtliche Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland wurden in ihrer Amtszeit immer wieder auf diesen Umstand angesprochen und befragt. Die Antwort ist bis heute die gleiche geblieben und deckt sich mit der Meinung unseres heute Geehrten: Die in Deutschland lebenden Juden stehen selbstbewusst zu ihrer Entscheidung, weil die demokratische, nach rechstaatlichen Prinzipien verfasste Bundesrepublik sich grundlegend von dem Deutschland der Weimarer Republik und dem Deutschen Reich der NS-Zeit unterscheidet. Wir sind Bürger dieses Landes, beanspruchen aber mit Blick auf die deutsche Vergangenheit das Recht, lautstark aufzubegehren, wenn wir den Eindruck haben, Anzeichen des braunen Ungeistes auszumachen.

Ein Standpunkt übrigens, der auch von dem Namensgeber des heute zur Verleihung anstehenden Preises vertreten wurde. Leo Baeck, Rabbiner und Religionsphilosoph, vertrat vor, während und nach dem Krieg die deutschen Juden auf verschiedenen exponierten ehrenamtlichen Posten. Sein Amt an der Spitze der demokratisch verfassten Reichsvertretung der deutschen Juden, die von den braunen Machthabern zur Reichsvereinigung der Juden in Deutschland erklärt wurde, entschied auch über Baecks Schicksal. Er hätte mehrfach die Möglichkeit zur Flucht gehabt, kehrte jedoch immer wieder nach Deutschland zurück und wurde 1943, als 70-jähriger, nach Theresienstadt deportiert. Als gütig, wahrhaftig und wohlwollend wird er von Mithäftlingen beschrieben, als Mittelpunkt eines sittlichen Widerstands: „Die Menschen hatten das Gefühl, nicht verlassen zu sein.“

Baeck überlebte und arbeitete in den ihm noch verbleibenden zehn Lebensjahren mit ungebrochenem Engagement für die Sache der Juden, die christlich-jüdische Verständigung und Erforschung der Geschichte des Judentums. Der Holocaust markierte für Leo Baeck das Ende dessen, was deutsches Judentum bedeutete: Das Ende der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und den Errungenschaften, die in den vorangegangenen 150 Jahren seit dem Beginn der Emanzipation, der schrittweisen rechtlichen Gleichstellung, erreicht worden waren. Zugleich unterstrich Baeck immer wieder: Solange Juden in Deutschland leben, müssen jüdische Gemeinden bestehen und dürfen sich nicht von der übrigen jüdischen Welt als abgeschrieben betrachten. Obwohl seit der Befreiung selbst in London lebend, verfolgte er mit großem Interesse die Anstrengungen der deutschen Juden, ihre Einrichtungen neu zu gründen und jüdisches Leben wiedererstehen zu lassen. Nach seinem ersten Besuch 1948 kam Leo Baeck regelmäßig nach Deutschland und brachte damit seine enge, ja unverbrüchliche Bindung an seine alte Heimat zum Ausdruck.

Ralph Giordano hat sich zeitlebens seiner schmerzlich-engen Bindung an die alte Heimat, an das Deutschland vor der Katastrophe und die Bundesrepublik gestellt. Wer seine Publikationen und seine Aussagen in Interviews über die Zeit verfolgt, wird Zeuge einer Entwicklung. Einem Prozess, der 1945 mit der oben zitierten Überzeugung einsetzt, dass es in Deutschland nicht nur Nazis, Schlächter und Denunzianten, sondern auch Millionen Gleichgesinnte gibt, man also kein Einzelkämpfer mehr sein muss. Die folgenden Jahrzehnte sind, was die Vergangenheitsbewältigung angeht, Schwerstarbeit. Ralph Giordano muss nicht nur das Erlebte bewältigen, sondern will zugleich seiner Verantwortung gerecht werden, die er als Überlebender glaubt wahrnehmen zu müssen. Er wurde durch die Umstände in die Rolle des Mahners und Wächters gedrängt, nahm sie an und füllt sie seither mit beeindruckender Kraft, noch mehr Mut, Scharfsinn und kaum zu überbietender Wachsamkeit aus. Ein für mich herausragendes Beispiel für sein ausgeprägtes soziales Gewissen und sein untrügliches Gespür für die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt ist sein Einsatz für die Aufarbeitung der Geschichte des Armenischen Volkes, speziell des Völkermordes, der 1915/16 an den Armeniern im türkisch-osmanischen Reich verübt wurde. Ein grausames Verbrechen, dass bis zum heutigen Tag menschliche Tragödien und politische Spannungen hervorbringt.

Um die bis heute in keiner Weise geschwächte Aufmerksamkeit Giordanos zu belegen, reicht ein Blick in die Zeitungen der vergangenen Wochen. Mit deutlichen Worten kritisiert er das instinktlose Vorhaben der baden-württembergischen Landesregierung, den durch seine NS-Vergangenheit schwer belasteten, ehemaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger anlässlich dessen 90. Geburtstages mit einem Empfang zu ehren! Ebenso unzweideutig nimmt er, ebenfalls im Juli, Stellung zu der kontrovers geführten Diskussion um das geplante „Zentrum gegen Vertreibung“. Als drittes Beispiel sei ein Artikel angeführt aus Anlass des

60. Jahrestages der Vernichtung seiner geliebten Vaterstadt Hamburg in der Operation „Gomorrha“ im Rahmen des alliierten Bombenkrieges. Keine dieser Äußerungen, wie immer die Öffentlichkeit auch dazu stehen mag, ist an Eindringlichkeit zu überbieten. Auch seine ärgsten Kritiker, ja seine Feinde wissen: Ralph Giordano ist durch und durch wahrhaftig, authentisch und in seinem Urteil unbestechlich.

Seine Veröffentlichungen der letzten Jahre weisen noch eine weitere Gemeinsamkeit auf, die ich nicht unerwähnt lassen möchte, weil sie unendlich viel über den Menschen Ralph Giordano aussagt. Gemeint ist die von seinen unbelehrbaren, vernagelten Gegnern immer wieder in Abrede gestellte Versöhnungsbereitschaft. Bei der Lektüre ganz unterschiedlicher Texte von ihm hat es mich immer wieder zutiefst berührt, wie groß sein Bemühen ist, zu differenzieren, Brücken zu schlagen und die Gräben zuzuschütten. Seine von den Medien bevorzugt zitierten und zuweilen der Wirkung halber auch mal aus dem Zusammenhang gerissenen, krachenden Kommentare verdecken eine herausragende Eigenschaft dieses Mannes: seine Fähigkeit zuhören zu können. In unzähligen Gesprächen, zufälligen und geplanten, hat er versucht Antworten zu finden, hat seine Urteile aus der Jugendzeit, aus den Jahren unmittelbar nach der Befreiung überprüft, relativiert, manchmal abgeschwächt -in jedem Fall aber in den Kontext neu gewonnener Erkenntnisse und Beobachtungen gestellt.

Er hat den Dialog mit den Frauen und Männern seiner Generation aufgenommen, hat nach Schicksalen gefragt. Rückblickend bedauert er, nicht schon früher Vorbehalte bei sich selbst überwunden zu haben. Er hört in sich hinein, analysiert, was sein über die Jahrzehnte angesammeltes, breites historisches Wissen in seinem Denken bewirkt hat, stellt Veränderungen fest und spürt den Wunsch nach Verständigung. Den Zusammenhang von Ursache und Wirkung wird er gleichwohl niemals auch nur annähernd in Frage stellen. Als überwältigendes Gefühl dominiert nunmehr Trauer. Trauer über das sinnlose Blutvergießen insgesamt, das Leiden und die unnötige Qual Millionen unschuldiger Opfer. Die Hierarchisierung des Schmerzes verliert an Bedeutung.

Lieber Ralph, wir sind seit nunmehr 45 Jahren befreundet und Du weißt deshalb, wie viel es mir bedeutet, Dir den diesjährigen Leo-Baeck-Preis überreichen zu dürfen. Ich wünsche Dir und uns allen in diesem Land: Fordere Deine Kritiker bitte noch lange heraus, empöre Dich und erhebe Deine Stimme! Herzlichen Glückwunsch zu dieser verdienten Auszeichnung!

 

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