Laudatio von Amos Oz anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises 2004



Laudatio von Amos Oz anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises 2004 des Zentralrats der Juden in Deutschland am 10. Mai 2005 an Bundesaußenminister Joschka Fischer

Sehr geehrter Joschka Fischer, sehr geehrte Jurymitglieder des Leo-Baeck-Preises, meine Damen und Herren, liebe Freunde, guten Morgen, Schalom für Sie alle,

Lassen Sie mich mit einem kleinen persönlichen Bekenntnis beginnen: Ich kann Joschka Fischers Biographie, seine Karriere, seine Verdienste und Leistungen nicht objektiv beschreiben, einfach deshalb, weil ich diesen Mann zu sehr mag, um objektiv zu sein.

Ich mag diesen Mann und ich fühle mich ihm in vielen Bereichen nah: als Friedensaktivist gegenüber einem anderen Friedensaktivisten, als geläuterter militanter Rechter zu einem geläuterten radikalen Linken, als ein Gymnasiumsabbrecher zu einem Gymnasiumsabbrecher, und als ehemaliger Traktorfahrer zu einem ehemaligen Taxifahrer.

Lieber Joschka Fischer – wenn Sie mir erlauben, Sie direkt anzusprechen– Sie sind nicht nur ein Staatsmann, den ich respektiere, sondern auch eine politische Führungspersönlichkeit für viele; Ihre philosophischen, ideologischen und praktischen Positionen beweisen, dass man ein entschiedener linker Führer sein kann, ohne notwendigerweise in linken Dogmatismus zu fallen, oder in linke Sentimentalität, auch nicht in die Klischees Blumen schwenkender Jugendlicher oder Fäuste ballender Extremisten.

Wie viele andere habe ich die Geschichte Ihres politischen Wachsens verfolgt, Ihre politische Reifung von einem radikalen Idealisten zu einer Art aufopferndem „Familiendoktor“, der geduldig und fachkundig mit mehreren internationalen Krisen fertig werden kann: ein geschickter Therapeut von Konflikten, ein kluger und warmherziger Vermittler zwischen verschiedenen widerstreitenden Parteien. Sie sind im Laufe der letzten Jahre zum bekanntesten Beispiel einer humanistischen, aufgeklärten und dennoch realistischen Führungspersönlichkeit geworden.

Wo liegt der wirkliche Unterschied zwischen einem radikalen Weltverbesserer und einem geduldigen evolutionären politischen Heiler?

Der Extremist ist oft nicht mehr als ein wandelndes Ausrufezeichen: Er hat eine schnelle Antwort für auf jede Frage; oft hat der Extremist die gleiche simple Antwort für auf alle Fragen; oft hat er sogar schon die Antwort, bevor die Frage überhaupt gestellt wurde.

Der pragmatische Familienarzt seinerseits weiß, dass es mehr Fragen als Antworten gibt; dass Leiden behandelt und reduziert werden kann und soll, sich aber niemals auf einen Schlag beseitigen lässt; dass die Obsession einer vollkommenen und perfekten Gerechtigkeit so gut wie nie mit Frieden und Versöhnung vereinbar ist.

Das Wort Kompromiss ist für eine pragmatische Führungspersönlichkeit, wie Sie es sind, nicht unbedingt ein schmutziges Wort. Wunden zu heilen und historische Konflikte zu lösen braucht Zeit und Klugheit, es erfordert die Kunst der Kompromisse weit mehr als Selbstgerechtigkeit, Ärger, Protest und Entrüstung.

Kompromisse sind niemals süß. „Ein glücklicher Kompromiss“ ist ein Widerspruch an sich; im Gegensatz zu dem, was gewisse Idealisten gerne glauben möchten, sind Kompromisse nicht zwangsläufig unehrenhaft oder opportunistisch oder suspekt; ein Kompromiss ist, zumindest in meinem eigenen Vokabular, ein Synonym für das Leben selbst. Das Gegenteil eines Kompromisses ist nicht Integrität oder Idealismus. Oft ist das Gegenteil eines Kompromisses Fanatismus und Gewalt.

Im vergangenen Jahr haben Sie in einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender Al Jazeera am 16.2.04 über einen „wirklich schmerzhaften Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern“ gesprochen. Sie sprachen über eine Zwei-Staaten-Lösung des Konflikts und über die Notwendigkeit, den palästinensischen Terror und anderen Terror zu beenden, als einen entscheidenden Schritt zum Frieden, zur Souveränität und zur Sicherheit für alle Völker des Mittleren Ostens.

Ihre Haltung, lieber Joschka Fischer, ist das beste Beispiel dafür, dass Europäer fortschrittlich, friedliebend und linksgerichtet sein können, ohne sich notwendigerweise oberflächliche, modische anti-israelische Standpunkte zu eigen zu machen.

Sie haben im Lauf der letzten paar Jahre auch bewiesen, dass man ein starker Kritiker gewisser Aspekte der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern sein kann, ohne je das israelische Recht auf eine Existenz in Frieden, Integrität und Sicherheit in Frage zu stellen.

Sie haben ebenfalls bewiesen, dass man den Krieg im Irak ablehnen kann, ohne automatisch bei jedem strittigen Thema eine blinde pro-arabische Position einzunehmen.

Ihre Begeisterung und Ihre Hingabe für die Idee der europäischen Einheit hat nie Ihre Vision der moralischen Verpflichtungen Europas gegenüber den weniger privilegierten Teilen der Welt verdunkelt. Sie waren immer ein wohlwollender Europäer, kein egoistischer Europäer, und auch kein Europazentrist.

Viele Menschen in Israel, viele jüdische Menschen überall, betrachten Sie als einen unserer besten Freunde in Europa: einen aufrichtigen Freund, einen beharrlichen Freund und manchmal einen offen kritischen Freund, dessen intellektuelle und emotionale Verbindlichkeit stets außerhalb jeden Zweifels stand und steht. Interessanterweise vertrauen Ihnen nicht nur Israelis und andere Juden, auch viele Palästinenser und andere Araber empfinden Ihnen gegenüber das Gleiche. Es gibt kaum einen anderen zur Zeit aktiven Politiker auf der Weltbühne, den beide Seiten als aufrichtigen Vermittler zu akzeptieren bereit sind. Das, lieber Joschka Fischer, ist ein Verdienst Ihrer Ehrlichkeit, Ihrer Integrität und Ihrer Klugheit.

Überall in der Welt gibt es Menschen, für die Sie den besten Typ einer Führungspersönlichkeit für das heutige Europa verkörpern: ein pragmatischer Visionär, ein hartnäckiger Friedensstifter, aber ganz bestimmt kein Beschwichtiger. Meiner Meinung nach sind Sie tatsächlich eines der besten „Produkte“ der Sechziger. Nicht jede „Blume“ der Sechziger reifte, um eine Frucht hervorzubringen, Sie haben es sicherlich getan.

Das jüdische Volk hat, wie Sie wissen, ein langes und schmerzvolles historisches Gedächtnis. Von dieser Perspektive aus haben wir mit Vorsicht den Kampf des neuen Deutschland gegen kriminelle Anteile der deutschen Vergangenheit verfolgt. Was Sie selbst bei vielen Anlässen und über viele Jahre hinweg öffentlich über die deutschen Verbrechen der Vergangenheit gesagt haben, schätze ich als wesentlichen Beitrag zu der erneuerten deutsch-jüdischen Beziehung hoch ein. Noch mehr bewundere ich Ihre Aussagen zu diesem Thema als bedeutenden Beitrag zur deutschen Identitätssuche, zum harten Dialog Deutschlands mit sich selbst.

Dem Beispiel verschiedener deutscher Nachkriegsautoren folgend, besonders dem der „Gruppe 47“, waren Sie immer mutig, direkt und unbeugsam in der öffentlichen Behandlung deutscher Verbrechen gegen Juden und andere, ebenso gegenüber der gegenwärtigen und zukünftigen historischen Verantwortung Deutschlands.

In diesem Jahr stellten Sie in einer Rede in New York (24.1.05) in Bezug auf den deutschen Völkermord an den Juden fest: „Dieses barbarische Verbrechen wird immer ein Teil der deutschen Geschichte sein.

Bei Ihrer Rede in Yad Vashem in Jerusalem im März (16.3.05) sagten Sie, „die tiefste Dunkelheit in der Geschichte meines Landes bleibt ein für allemal in unsere Erinnerung gebrannt“. Solche Worte sind tatsächlich wegweisend für die Deutschen, von denen ein Teil dazu neigt, die Nazis als eine Art Außerirdische zu betrachten, die Deutschland besetzt und gegen den Willen des Volkes kontrolliert haben, während andere Deutsche neuerdings die deutschen Verbrechen dadurch verteidigen, dass sie mit dem Finger auf die Verbrechen anderer Nationen deuten oder das Ausmaß der deutschen Verbrechen abschwächen oder marginalisieren.

Darüber hinaus kämpfen Sie immer mutig gegen neuere Manifestationen von Antisemitismus oder andere Formen des Rassismus in Deutschland. Sie haben nie versucht, diese erschreckenden Rückfallsyndrome als untergeordnete und unbedeutende „Episoden“ abzutun.

In Ihrer Dankesrede anlässlich des Ehrendoktortitels, den Ihnen die Universität Haifa im Jahre 2002 verliehen hat, sagten Sie: „Ich schäme mich, wenn jüdische Deutsche das Gefühl haben, dass sie wieder im Stich gelassen werden [...] deshalb ist die Frage, ob Juden sicher sind und sich in Deutschland zu Hause fühlen, die entscheidende Frage für die Glaubwürdigkeit unserer deutschen Demokratie, eine Frage, die wir Deutsche uns immer und immer wieder stellen müssen.“

Lieber Joschka Fischer, ich habe Gerüchte über Ihre jüngsten politischen Schwierigkeiten hier in Deutschland gehört. Ich bin kein Experte der deutschen Einwanderungsbestimmungen und ich habe ganz bestimmt nicht die Absicht, heute Morgen auf dieses Thema einzugehen, doch erlauben Sie mir, lieber Freund, Ihnen zu sagen, dass es mir viel besser erscheint, wenn jemand beschuldigt wird, die Tore für Immigranten und Flüchtlinge weit offen zu halten, als sich dadurch schuldig zu machen, dass man die Tore zu fest vor ihnen verschließt. Ich sage das als Sohn und Enkel von Menschen, denen man vor siebzig Jahren fast alle Tore der Welt vor der Nase zugeschlagen hat.

Rabbi Leo Baeck war die Inkarnation jüdischer Weisheit, jüdischer Toleranz, jüdischer Humanität und jüdischen Universalismus. In Hinblick auf diese Werte verdienen nur wenige Menschen im heutigen Deutschland, in der heutigen Welt, so sehr wie Sie, mit dem Leo-Baeck-Preis geehrt zu werden.

Sie verdienen diese Ehre, lieber Joschka Fischer, für Ihre Integrität und Ihre Vision, für Ihre Phantasie und für Ihren Mut, für Ihre tiefe Empathie mit allen Opfern von Ungerechtigkeit und, nicht zuletzt, für Ihre warme, unbeirrbare Empathie für das jüdische Volk und für Israel.

Sie haben Ihre Wurzeln in einer pazifistischen Jugend – und brachten trotzdem den Mut auf, die Teilnahme Deutschlands an der bewaffneten Intervention im Kosovo zu verteidigen, eine Intervention, die begonnen wurde, um Völkermord zu verhindern.

Sie haben Ihre Wurzeln in der Tradition einer tiefen Verbindung mit der demokratischen Allianz der Nationen – und brachten trotzdem den Mut und die moralische Integrität auf, sich gegen die militärische Operation im Irak zu stellen, es sei denn, eine solche Aktion wäre gedeckt und ausgeführt durch den Sicherheitsrat der UNO und der Gemeinschaft der Nationen.

Sie haben Ihre Wurzeln in einer radikalen Linken, die oft dazu neigt, für die Dritte Welt Partei zu ergreifen, „richtig oder falsch“ – und brachten trotzdem den Mut und die Klugheit auf, eine ausgewogene Position im israelisch-arabischen Konflikt einzunehmen, ebenso wie in anderen Konflikten.

Meine Damen und Herren, es mag wirklich wahr sein, dass man Terror nicht ohne Waffen bekämpfen kann – aber es ist bestimmt nicht weniger wahr, dass Waffen allein Terror nicht besiegen.

Einen Haufen Fanatiker in den Bergen von Afghanistan oder in den Gassen von Bagdad zu verfolgen, ist eine Sache, doch Fanatismus im Zaum zu halten und zu heilen ist etwas ganz anderes: Fanatische Gewalt nährt sich aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung; um fanatische Gewalt zu verringern, reicht es nicht, die Fanatiker zu jagen und zu fangen: Es ist entscheidend, Hoffnung zu wecken und Vertrauen in eine bessere Zukunft in den unterdrückteren Teilen der Welt aufzubauen.

Meine Gefährten in der israelischen Friedensbewegung und ich selbst unterscheiden zwischen „Pazifisten“ und „Friedensanhängern“; während die Pazifisten Krieg für das ultimative Böse in der Welt halten und sich daher einfach weigern, eine Waffe in die Hand zu nehmen, egal welche, halten die Friedensanhänger andererseits daran fest, dass „die Ursünde“ nicht der Krieg selbst ist, sondern AGGRESSION: Aggression sollte tatsächlich als „die Mutter aller Kriege“ bezeichnet werden. Konsequenterweise werden Friedensanhänger, anders als Pazifisten, manchmal Waffen in die Hand nehmen – aber nur, um Aggression abzuwehren, zu keinem anderen Zweck. Vielleicht braucht ausgerechnet hier, in Berlin, die Logik der Friedensanhänger im Gegensatz zur Logik der Pazifisten keine weitere Erklärung. Ich betrachte Sie, Joschka Fischer, nicht als einen Pazifisten, sondern als einen Friedensanhänger und damit als einen Gefährten.

Und nun eine Schlussbemerkung, lieber Freund: Falls Sie je hier in Deutschland arbeitslos werden, brauchen Sie nicht mehr Taxi zu fahren; Sie können immer nach Israel kommen, wo Sie leicht zum Leiter der israelischen Linken oder der israelischen Friedensbewegung gewählt werden könnten.

Bitte erlauben Sie mir zu sagen, wie stolz ich auf die Jury des Leo-Baeck-Preises bin, dass sie den diesjährigen Preis einem bedeutenden Politiker verleiht, der ebenso ein großer Humanist und ein großartiger Freund ist. Herzlichen Glückwunsch.

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