Judentum in Hinterzimmern? Niemals!



Gastbeitrag von Dieter Graumann | Tagesspiegel, 01.09.2012

Die Attacke auf einen Rabbiner in Berlin war nicht nur ein boshafter Angriff auf das Judentum, er war auch ein Angriff auf uns alle, schreibt Dieter Graumann. Die Juden in Deutschland werden sich dadurch aber nicht einschüchtern lassen, prophezeit er.

Was ist nur los in Deutschland?“ Diese Frage wird mir seit Wochen von jüdischen Freunden aus aller Welt viel zu häufig gestellt. Leider gibt es für diese Frage aktuelle Anlässe. Denn die Angriffe auf jüdisches Leben haben zugenommen. Die Grenze des Erträglichen ist auch für mich selbst allmählich erreicht – und zwar nicht, weil die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft etwa tatsächlich zu bezweifeln wäre, sondern weil ich nun gerade jetzt erst recht auf eine positive, blühende jüdische Zukunft in Deutschland setze.

Erst vergangenen Dienstag ist mitten in unserer Hauptstadt ein Rabbiner angegriffen, widerlich beleidigt und brutal zusammengeschlagen worden, und das sogar vor den Augen seiner kleinen Tochter.

Entsetzen, Schock, Wut – das drückt aus, was ich empfand, als ich von diesem abscheulichen Angriff, der aus purem Antisemitismus geschah, erfuhr.

Die Attacke war nicht nur ein boshafter Angriff auf das Judentum, er war auch ein Angriff auf uns alle, auf unsere Werte von Freiheit, Vielfalt und Toleranz. Aber wenn wir beim Thema Toleranz sind: Wie sieht es damit in unserer Gesellschaft aus? Gerade in der Beschneidungsdebatte erkennen wir auf der Seite der Beschneidungsgegner zu oft einen unsensiblen und schlichtweg verantwortungslosen Ton. Denn: Wenn Juden und Muslimen lauthals vorgeworfen wird, sie würden mit dem Beschneidungsakt ihren Söhnen „sexuelle Gewalt“ antun und ihnen mutwillig Schmerz zufügen, wird ein Klima von Intoleranz und Ausgrenzung erzeugt.

Warum wird diese Debatte nirgendwo sonst auf der Welt von Beschneidungskritikern mit einer so unerbittlichen, schroffen Härte und mit derart rüdem Anklageton geführt wie hier in Deutschland? Ich habe Verständnis dafür, dass gerade dieses Thema kritische Fragen, teils Unverständnis und zuweilen auch emotionale Reaktionen auslöst. Wo aber bleiben dabei aber Toleranz und Respekt gegenüber Minderheiten? Lasst uns über Beschneidung reden – aber im Dialog und nicht durch einseitige, besserwisserische Vorhaltungen, die zwei Weltreligionen zu kriminalisieren versuchen.

Schließlich handelt es sich nicht um einfach irgendeine Tradition, sondern um einen elementaren Bestandteil des Judentums. Kein Gebot wird so universell befolgt wie das der Beschneidung. Ausdrücklich will ich daher die Resolution des Bundestags vom 19. Juli loben, die ein Gesetz ankündigt, das die Rechtssicherheit herstellt und signalisiert: Jüdisches und muslimisches Leben sind hier erwünscht. Was ich mir aber ebenso wünsche, ist eine emotionale Sicherheit, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen sollte. Unkenntnis kann überwunden werden, Unverständnis muss aber erst überwunden werden wollen. Wer im Vorfeld Barrieren aufstellt, wird ein Miteinander ohne Hürden bestimmt niemals erreichen können.

Das gilt auch für den Überfall in Berlin. Der Hass, der sich immer öfter in roher Gewalt ausdrückt, hat seinen Ursprung dort, wo Feindschaft gepredigt oder zugelassen wird. Hier gibt es noch viel, was zu verbessern ist. Es liegt an uns allen, unseren Kindern den Wert von Vielfalt zu vermitteln.

Wir Juden in Deutschland werden uns jedenfalls ganz sicher nicht einschüchtern lassen. Und einigen jüdischen Stimmen, die raten, man solle bestimmte Viertel besser meiden oder seine Glaubenssymbole nicht öffentlich tragen, oder den Stimmen aus Israel, die jüdisches Leben in Deutschland sogar generell infrage stellen, denen sage ich ganz deutlich: Nein! Ich selbst werde diesen Rat bestimmt nie befolgen! Ich lasse nicht zu, dass mir No-go-Areas auferlegt werden. Ich lasse nicht zu, dass wir unser Judentum nur im Hinterzimmer ausleben dürfen – ganz im Gegenteil: Wir werden unsere neue, positive jüdische Zukunft in diesem Land weiter voller Leidenschaft aufbauen. Wir Juden verstecken uns nicht, und wir haben keine Angst. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, der muss ewig warten.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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