Ich erwarte von Arte mehr Sorgfalt



Interview mit Zentralratspräsident Dr. Schuster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 3.8.2017

Die Dokumentation über Judenhass in Europa wollte Arte nicht zeigen: Sie sei zu einseitig. Eine Gaza-Reportage, die Israel alle Schuld zuweist, bringt der Sender schon. Passt das zusammen?

Sehr geehrter Herr Schuster, der Zentralrat der Juden in Deutschland und einige andere Organisationen haben den Sender Arte in einem Offenen Brief wegen der Ausstrahlung der Dokumentation „Gaza: Ist das ein Leben?“ kritisiert. Warum?

Im Zuge der Debatte im Juni über die Arte/WDR-Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ hatten beide Sender ihre hohen Ansprüche an journalistische Qualität und Ausgewogenheit ihrer Beiträge betont. Damit hatten sie begründet, warum die Dokumentation über Judenhass zunächst nicht ausgestrahlt wurde und schließlich nur nach öffentlichem Druck mit Kommentaren und einem Faktencheck im Internet. Jetzt mussten wir allerdings feststellen, dass wieder eine Reportage gezeigt wurde, bei der es an Ausgewogenheit und journalistischer Sorgfaltspflicht mangelt. Das wurde in dem offenen Brief thematisiert. Und das habe auch in einem Schreiben an den Arte-Präsidenten kritisiert.

Sie werfen dem Film Einseitigkeit vor. An welchen Punkten machen Sie dies fest?

Das lässt sich an vielen Punkten festmachen. Es werden etwa Militäraktionen Israels gegen Gaza erwähnt. Der israelischen Seite wird aber nicht die Möglichkeit gegeben, aus ihrer Sicht darzustellen, warum sie militärisch gegen Gaza vorgegangen ist. Ebenso heißt es in den Film, Israel sei verantwortlich für die mangelnde Stromversorgung in Gaza. Zur vollständigen Darstellung gehört aber, dass die palästinensische Autonomiebehörde Israel gebeten hatte, die Stromversorgung zu reduzieren. Hintergrund dieser Bitte ist Medienberichten zufolge ein Machtkampf zwischen der radikal-islamischen Hamas und der Fatah. Israel liefert zudem nur einen Teil des Stroms für Gaza.

Sie sprechen von Auslassungen.

Wie eben erwähnt, fehlt zum Beispiel die Ursachenbenennung des Gaza-Konflikts von 2014. Das waren die andauernden Raketenbeschüsse aus Gaza auf Israel. Dass das israelische Militär auch Wohnhäuser bombardiert hat, lag unter anderem daran, dass die Hamas sich bewusst bei Zivilisten einquartiert. Während Israel Bunker zum Schutz seiner Bevölkerung gebaut hat, werden in Gaza Menschen als Schutzschilde missbraucht. Eine weitere Auslassung sehen wir auch darin, dass der Einfluss der Hamas auf das Leben in Gaza nicht erwähnt wird. So beklagt am Ende des Films ein Mann, dass es keine Clubs oder Discos in Gaza gebe. Hier wäre der Hinweis angebracht gewesen, dass die Hamas häufig Einschränkungen macht bei öffentlichen Tanz- und Musikveranstaltungen wie 2015 zu Silvester.

Aber ist es nicht zutreffend, die Politik der israelischen Regierung für die Lage in Gaza verantwortlich zu machen?

Im Nahost-Konflikt haben wir generell das Problem, dass es immer schwieriger wird, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Die Auflagen der israelischen Regierung für Bewohner des Gaza-Streifens erschweren deren Leben sicherlich in mancher Hinsicht. Doch nachdem sich Israel 2005 aus Gaza zurückgezogen hatte, führte dies nicht etwa zu einer friedlichen Nachbarschaft, sondern zu weiteren Attentaten durch Palästinenser, die anschließend stets in Gaza als Helden gefeiert wurden. Es führte zu Raketenbeschüssen auf Israel. Die Hamas baute mit internationalen Hilfsgeldern Tunnel, um Waffen und anderes zu schmuggeln. Mit strengeren Kontrollen hat Israel auf diese Entwicklung reagiert. Die schlechte wirtschaftliche Lage in Gaza und die hohe Arbeitslosigkeit haben auch sehr viel mit Korruption und der Politik auf palästinensischer Seite zu tun.

„Israel-Kritiker“ weisen in dem Zusammenhang gerne darauf hin, dass Kritik an Israel ungerechtfertigterweise mit Antisemitismus gleichgesetzt werde. Worin erkennen Sie bei der von Arte gesendeten Dokumentation die antisemitische Stoßrichtung?

Wir werfen der Reportage von Arte keine antisemitische Stoßrichtung vor. Uns ist allerdings klar: Wenn so einseitig Vorurteile gegen Israel und eine antizionistische Haltung bedient werden, dann fühlen sich all jene bestätigt, die gerne Israel oder Juden generell für alles Übel verantwortlich machen. Gerade weil Israel ständig mit anderen Standards gemessen wird als andere Staaten und weil der Nahostkonflikt so kompliziert ist, tragen Medien eine hohe Verantwortung, die Lage differenziert und ausgewogen darzustellen.

Ihnen erscheint auch der Hintergrund der Filmemacher fragwürdig. Die Autorin Anne Pac publiziert auf dem Portal „The Electronic Intifada“. Dort finden sich in der Tat ausschließlich Beiträge, die Juden als „Täter“ ausweisen.

Wenn man als Sender Autoren beauftragt, die in einem solchen Umfeld aktiv sind, dann wäre doch besondere Sorgfalt bei der Abnahme des Films gefragt. Vielleicht sollte sich ein Sender auch vorher schon fragen, ob Menschen als Autoren geeignet sind, die sich in einem Konflikt bereits öffentlich einseitig und nicht objektiv exponiert haben.

Wie erklären Sie sich, dass Arte den Film gesendet hat? Dies auch vor dem Hintergrund, das der Sender vor einigen Wochen die Ausstrahlung der Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ schlichtweg abgelehnt hat – mit dem Hinweis, sie entspreche nicht der „editorialen“ Linie des deutsch-französischen Kultursenders?

Eine einseitige Kritik an Israel entspricht leider dem Mainstream, vor allem in Frankreich. Vielleicht erhofft sich Arte damit höhere Einschaltquoten als mit einem Film, in dem Judenfeindlichkeit auch in antizionistischen Kreisen dargestellt wird.

Arte hat mitgeteilt, es handele sich bei dem Film nicht um eine Dokumentation, sondern um eine Reportage. Und Reportagen seien "per definitionem Ausdruck der persönlichen Erfahrungen und Begegnungen eines vor Ort befindlichen Journalisten." Gerade darin bestehe "der journalistische Wert dieses Genres, da es persönliche Sichtweisen authentisch widerzuspiegeln vermag, ohne den Anspruch zu erheben, einen komplexen Sachverhalt vollständig und von allen Seiten gleichgewichtig zu beleuchten." Die Reportage beschäftige sich bewusst "mit den Lebensumständen der Protagonisten aus deren Perspektive". Was halten Sie von dieser Entgegnung?

Es ist auffällig, dass sich Arte stets auf sehr formale Begründungen bei der Beurteilung der Beiträge zurückzieht. Einer inhaltlichen Auseinandersetzung ist der Sender in beiden Fällen, also bei der Judenhass-Doku und der Gaza-Reportage, ausgewichen. Warum sollte es nicht möglich sein, die Perspektive eines Protagonisten durch ein, zwei einordnende Sätze zu ergänzen? Auch eine authentische Wiedergabe einer persönlichen Sichtweise sollte für Zuschauer verständlich sein. In dem Film wird aber nicht erklärt, warum sich der Protagonist in der Lage befindet, wie er sie schildert.

Ich habe den Eindruck, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk davor scheut, den um sich greifenden, alltäglichen Judenhass beim Namen zu nennen, vor allem wenn es um linken oder muslimischen Antisemitismus geht.

Ich möchte nicht über den gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein Pauschalurteil fällen. Wir merken selbst, über muslimischen Antisemitismus zu sprechen, kommt einem Drahtseilakt gleich. Man erntet einerseits sehr schnell Applaus von sehr rechten politischen Kräften, die die Kritik nutzen, um Vorurteile gegen Muslime zu schüren. Andererseits wurde uns wegen solcher Äußerungen auch schon Rassismus vorgeworfen. Ich halte es dennoch für sehr wichtig, Probleme, die es nun mal gibt, nicht zu verschweigen. Hier würde ich mir manchmal mehr Mut von den öffentlich-rechtlichen Sendern wünschen.

Im Frühjahr lief beim WDR ein Film über den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders lief, der ganz eindeutig einen antisemitischen Unterton hatte. Das war im Sender entweder niemandem aufgefallen oder für angemessen befunden worden war.

Ja, solche Fälle erleben wir leider immer wieder. Noch häufiger sind wir allerdings mit Beiträgen konfrontiert, in denen Israel einseitig als Täter bzw. Schuldiger im Nahostkonflikt dargestellt wird. Angesichts des wachsenden Israel-bezogenen Antisemitismus in Deutschland macht mir das große Sorgen.

Was erwarten Sie jetzt von Arte? Sie haben dezidiert den ArtePräsidenten und SWR-Intendanten Peter Boudgoust angeschrieben, und fordern, dass der Film „Gaza: Ist das ein Leben?“ überarbeitet und zurückgezogen wird.

Wir haben ja gesehen, dass Sender auch recht kurzfristig in der Lage sind, einen Faktencheck zu erstellen. Auch Arte könnte die Reportage in der Mediathek mit einem Faktencheck verbinden. Unkommentiert sollte sie nicht im Netz stehen bleiben. Vor allem aber erwarte ich von Arte, dass künftig bei der Auswahl von Autoren und bei der Abnahme von Beiträgen mehr Sorgfalt waltet.

Wenn ich mir den Mummenschanz ansehe, den der WDR mit seinem „Faktencheck“ betrieben hat, welcher dem dann doch (in veränderter Form) gesendeten Film „Auserwählt und ausgegrenzt“ von Joachim Schroeder und Sophie Hafner beigegeben wurde, plus der zur Selbstrechtfertigung gedachten Talkshow von Sandra Maischberger, würde ich die Chancen für echte Kritikfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender in diesem Punkt als gering einschätzen.

Warten wir es ab. So viel öffentlichen Druck hat es ja noch nicht oft zu einzelnen Beiträgen gegeben. Der Mummenschanz, wie Sie es nennen, und die Talkshow haben immerhin dazu beigetragen, dass in einer Breite über Israel-bezogenen Antisemitismus öffentlich debattiert wurde, wie wir es lange nicht erlebt haben.

Die Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus, Lala Süsskind, sagt angesichts der Dokumentation über Judenhass, von der sich Arte und WDR distanzierten, und dem Gaza-Film, es dränge „sich zwangsläufig der Eindruck auf, dass beim Thema Antisemitismus und Israel mit zweierlei Maß gemessen wird.“

An Israel werden in der Tat sehr häufig andere Maßstäbe angelegt, das kann ich bestätigen.

Als Arte wegen der Ablehnung des Films über den Hass auf Juden in Europa Kritik erfuhr, wies der Programmdirektor Alain Le Diberder diese Ihnen gegenüber zurück. Dieser Zeitung teilte Arte mit, man bezeuge seit 25 Jahren „sein Engagement gegen Antisemitismus“ und werde „dies in Zukunft weiterhin tun“. Wird der Sender, werden die Öffentlich-Rechtlichen, diesem Anspruch Ihres Erachtens gerecht?

Wenn ich mit die Gaza-Reportage vor Augen halte, wird Arte damit den eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Das habe ich auch in meinem Schreiben deutlich gemacht. Ich hoffe sehr, dass unser offener Protest zu einem Nachdenken bei den Senderverantwortlichen führt. Das Gespräch führte Michael Hanfeld.

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