Grußwort vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Dieter Graumann, zu Rosch Haschana



Foto: Jüdisches Museum Griechenlands

Verehrte Gemeindemitglieder, liebe Freunde,

Wieder steht uns ein neues Jahr bevor: 5773 - es möge ein glückliches, gesundes und friedvolles Jahr für uns alle werden.

An Rosch Haschana lassen wir das vergangene Jahr Revue passieren. Wir denken darüber nach, was wir getan haben, im Guten wie im Schlechten, und was wir noch besser hätten tun sollen, und nehmen dies als ganz persönlichen Anstoß, um es im neuen Jahr auch wirklich umzusetzen – zum Wohle unserer Familie, unserer Freunde und unserer gesamten jüdischen Gemeinschaft.

Hierbei stellen wir den Anspruch ganz allein an uns selbst, so sollte es zumindest sein. Denn jeder, der in sich geht, muss sich fragen, was sie oder er ganz persönlich tun kann, um das neue Jahr noch erfolgreicher zu gestalten. Wir formulieren sicherlich auch gerade in dieser Zeit viele Wünsche, Wünsche nach einem besseren Leben, nach einem erfüllten Dasein, Wünsche, die Zuversicht ausdrücken und Hoffnung transportieren.

In diesem Jahr aber will ich noch einen weiteren dringenden Wunsch äußern - und zwar an niemanden Geringeren gerichtet als an das Land, in dem wir leben, und an die Menschen, mit denen wir leben. Es ist der Wunsch nach mehr Respekt und Verständnis, nach wirklicher Toleranz und Akzeptanz, der Wunsch nach einem Mehr an vertrauensvollem Miteinander anstelle von kaltem Nebeneinander, nach wahrhaftiger Nähe anstelle von brüsker Distanzierung.

In den allerletzten Monaten brach eine regelrechte Flut an unhaltbaren Vorwürfen und besserwisserischen Vorhaltungen auf unsere jüdische Gemeinschaft und das gesamte Judentum herein. Anstatt Brücken der Annäherungen wurden zu oft Mauern der Unnachgiebigkeit und des Unwillens errichtet. Der Versuch, eines der elementarsten Gebote im Judentum, die Brit Mila (die Beschneidung an Knaben), als Straftat zu stigmatisieren und somit ein entscheidendes Merkmal von jüdischer Identität sogar verbieten zu wollen, kriminalisiert nicht nur uns Juden von heute, sondern zugleich auch alle Juden vor uns, die dieses Gebot seit 4000 Jahren gewissenhaft befolgen.

Den zum Teil durchaus auch verwerflichen und abstrusen Diffamierungen innerhalb der Debatte stellen wir uns entschlossen und vereint entgegen. Mit der Erfahrung von über 100 jüdischen Generationen vor uns, der Weisheit von Jahrtausenden und dem Anspruch an die Ewigkeit unserer Gebote, werden wir unsere religiösen Traditionen weiterführen und uns dabei durch nichts und niemanden beirren lassen.

Die jüdische Perspektive ist hierbei zugleich auch immer ausdrücklich die heute so oft zitierte Perspektive des Kindeswohls. Der Vorwurf, wir würden unseren Kindern mutwillig Schaden und Schmerz zufügen, ist daher ganz besonders infam und tief verletzend. Wir werden ihn uns nicht mehr gefallen lassen.

Und als wäre diese Debatte nicht schon Herausforderung genug, mussten wir Ende August die Nachricht von einem niederträchtigen Angriff auf einen unserer jüdischen Menschen vernehmen. Angegriffen, nur weil er als „jüdisch" erkennbar war. Der brutale Überfall auf Rabbiner Alter in Berlin im Beisein seiner Tochter war Ausdruck von purer Menschenfeindschaft, die Motivation, reiner Antisemitismus. Und das heute inmitten unserer multikulturellen Hauptstadt. Viele Stimmen der Solidarität und Anteilnahme regten sich. Dafür können wir dankbar sein. Wer aber kann es uns verübeln, dass wir hier mehr verlangen? Mehr als nur reine Bekundungen, mehr als nur schöne Worte, mehr als bloße Lippenbekenntnisse. Hier verlangen wir von allen, den Behörden, den Politikern, den Religionsverbänden und der gesamten deutschen Gesellschaft stärkeres Handeln, deutlichere Positionierung und glasklare Ächtung der Täter. Antisemitismus bedeutet immer Menschenhass, ganz gleich von welcher Seite er kommt. Die zunehmenden verbalen oder auch immer öfter auftretenden physischen Angriffe auf uns Juden hierzulande sind zugleich Angriff auf ganz Deutschland, auf unsere gemeinsamen Werte von Freiheit, Vielfalt und Toleranz - Niemand darf dies tolerieren. Und wir werden eine Toleranz der Intoleranz auch nicht länger akzeptieren.

Ich habe volles Vertrauen darin, dass der Bundestag, wie bereits in der Resolution vom 19. Juli mit großer Mehrheit angekündigt, bald die nötige Rechtssicherheit schaffen wird, damit die religiöse Beschneidung an Jungen auch weiterhin legal bleibt. Auch glaube ich fest daran, dass die Sicherheitsbehörden Angriffe, wie den in Berlin schnell aufklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen werden.

Was ich mir jedoch sehr wünsche, ist aber zudem die nötige emotionale Sicherheit, die möglichst von allen Menschen und nicht nur von den verantwortungsbewussten politischen Entscheidungsträgern eindeutig ausgeht und die uns vermittelt, dass jüdisches Leben hier weiterhin willkommen ist. Allen Anfeindungen in den letzten Wochen zum Trotz, bin ich überzeugt davon, dass das auch der Fall ist.

Unseren Stolz, unseren Optimismus werden wir uns gewiss nicht nehmen lassen.

Wir werden uns auch ganz sicher nicht entmutigen lassen. Trotz aller Stimmen, die dazu raten, man solle seine Glaubenssymbole in Zukunft besser nicht öffentlich tragen, und entgegen den Stimmen aus Israel, die jüdisches Leben in Deutschland nunmehr sogar generell in Frage stellen, sollten wir unsere Zuversicht keinesfalls einbüßen. Wir dürfen es niemals zulassen, dass uns Juden No-Go-Areas auferlegt werden. Ebenso wenig lassen wir es zu, dass unser Judentum in Hinterzimmer oder in die Isolation verbannt wird – ganz im Gegenteil sogar: Wir werden unsere neue, positive jüdische Zukunft in diesem Land weiter voller Leidenschaft aufbauen. Jetzt erst Recht!

Es ist mir daher ein großes persönliches Anliegen allen jüdischen Menschen hierzulande, die gerade verständlicherweise eine Unsicherheit oder gar Zweifel verspüren, aus tiefstem Herzen zu versichern: Wir werden diese Angriffe auf unsere jüdischen Werte und auf jüdisches Leben in Deutschland mit Sicherheit überstehen! Wir sind selbstbewusst genug, uns für das einzusetzen, was uns am Herzen liegt und für das, was unsere Seele und Substanz ausmacht! Wir Juden verstecken uns nicht und wir haben auch keine Angst. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, der muss ewig warten.

Und wenn diese ganzen Vorfälle denn überhaupt etwas Positives gezeigt haben, dann doch dies: wie stark wir doch sein können, wenn wir alle zusammenhalten. Aus der Einheit unseres jüdischen Volkes werden wir auch weiterhin die Kraft, Motivation und den Glauben schöpfen, um bestehende und kommende Herausforderungen zu meistern – und meistern werden wir sie mit absoluter Sicherheit! Dies ist kein bloßer Wunsch, sondern ein Versprechen!

In diesem Sinne, von Herzen Shana Tova umetuka!

Ihr

Dr. Dieter Graumann
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

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