Grußwort Dr. Josef Schuster, Neue Dimensionen des Judenhasses



Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen, 27.9.2024 Frankfurt am Main

Sehr geehrte Frau Prof. Schröter,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

mir gingen beim Durchsehen dieses hochkarätig besetzten Programms sehr viele verschiedene Gedanken und Fragen durch den Kopf.  Doch vor allem wurde mir vergegenwärtigt, dass wenn wir über Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen und Ausprägungen sprechen, es nicht zu kurz kommen darf, im gleichen Maße darüber zu sprechen, was es eigentlich bedeutet Antisemitismus zu erfahren. Welche Folgen das für den Einzelnen und für die Gemeinschaft hat.

 

Wir behandeln das in einer Zeit der Trauer. Einer Zeit nach dem blutigsten Massaker an Juden seit der Schoa. Einer Zeit nach dem Angriff der Hamas auf Israel, der den Hass auf Juden überall auf der Welt wiederbelebt hat.

Und es ist auch eine Zeit, in der Jüdinnen und Juden – auch in Deutschland – sich häufig alleine fühlen und dabei tief verwurzelte Traumata geweckt werden.

Die Einsamkeit war so oft eine existentielle Erfahrung für Juden. Der beispiellose Anstieg antisemitischen Hasses verstärkt dieses uns generationsübergreifend so vertraute Gefühl der Einsamkeit und der Isolation.

 

Verstärkt wird dieses Gefühl durch eine gesellschaftliche Stimmung, die es sich im Hass auf Israel gemütlich macht und durch ein mediales Versagen in der Berichterstattung über den Krieg in Israel, die begleitet wird von Objektivierung und Relativierung auch über die Folgen hier im Land, in Deutschland.

 

Ich denke, wir sind uns alle einig in der Tatsache, dass der Krieg ein Ende finden muss. Und niemandem soll abgesprochen werden, sich für Frieden einzusetzen.

Aber Frieden kann es nur geben, wenn Israel sicher ist und nicht weiterhin von Terrorregimen wie der Hamas in Gaza oder der Hisbollah in Libanon bedroht wird.

 

Was in der medialen Darstellung zum aktuellen Krieg zwischen der Hisbollah und Israel komplett fehlt, ist, dass die Hisbollah Israel seit dem 8. Oktober 2023 permanent mit Raketen beschießt.

Dass Israel das nun verhindern will, ist kein Angriff, sondern eine Verteidigung – diese Kategorien geraten völlig aus dem Ruder. Die Wahrnehmung ist verschoben. Der gesamte israelische Norden ist evakuiert. 80.000 Menschen sind seit Monaten gezwungen ihr Zuhause zurückzulassen und Schutz für sich und ihre Familien zu suchen.  Mit großem Aufwand werden viele der Raketen abgefangen, auch wenn kürzlich in Haifa welche einschlugen.

 

Es darf Israel nicht negativ ausgelegt werden, wenn es seine Bürger schützen muss.

 

Ob bewusst oder unbewusst wird mit diesen Berichten ein negatives Bild von Israel manifestiert, der unsere Gesellschaft über Jahre verändern wird, wie ich fürchte. Und es sind Jüdinnen und Juden, die die Hauptlast dieser Verschiebung tragen werden.

 

Zahlen wie die der Dokumentationsstelle RIAS geben nur ansatzweise einen Hinweis auf die Dramatik der Situation. Für 2023 heißt es dort: 4782 dokumentierte antisemitische Vorfälle – das bedeutet einen Anstieg um fast 83 Prozent zum Vorjahr –, allein 2787 der Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober. Und wiederum 71 Prozent davon, so der Bericht, konnten der Erscheinungsform israelbezogener Antisemitismus zugeordnet werden. Ein beispielloser antisemitischer Terror-Akt in Israel hat eine Explosion des israelbezogenen Antisemitismus in Deutschland zur Folge – das ist ein Mechanismus des Hasses.

 

 

 

 

Meine Damen und Herren,

 

dass der Antisemitismus im Antiisraelismus oder Antizionismus enthalten sei „wie das Gewitter in der Wolke“, schrieb Jean Améry bereits vor 55 Jahren.

Eine große Mehrheit der Juden identifiziert sich als Zionisten. Die Solidarität mit Israel oder eine zionistische Haltung ist in ihrem Wesenskern mehrheitlich keine politische Positionierung. Vielmehr erwächst Zionismus – wohlgemerkt, den einen Zionismus gibt und gab es noch nie - einer Notwendigkeit. Er ist eine Überlebensstrategie.

 

Der Zionismus steht für das Recht des jüdischen Volkes, nach Jahrhundertern der Entrechtung über seine eigene Zukunft zu entscheiden. Mit Israel gibt es einen Staat, in dem Juden ihre Identität frei und selbstbewusst leben können – der einzige Staat, in dem Jüdinnen und Juden die Mehrheitsgesellschaft darstellen.

Als Gegenbewegung zur Assimilation ist er darüber hinaus ein Ausdruck jüdischen Selbstbewusstseins. Es ist nicht die imaginierte jüdische Überlegenheit, die in den Baukästen der Antisemiten aller Couleur nicht fehlen darf.

 

Ich muss es in aller Deutlichkeit sagen: Es ist einer antisemitischen Querfront   gelungen den Begriff Zionismus und damit einhergehend das jüdische Streben nach Souveränität und Sicherheit ideologisch völlig zu verzerren. Zwischen den politischen Kräften dieser Querfront gibt es Spannungsverhältnisse, aber man solidarisiert sich über ein gemeinsames Feindbild.

 

Plötzlich ist es sekundär, ob Linksextreme oder gar Progressive, die sich ja eigentlich emanzipatorische Befreiungskämpfe auf die Fahne schreiben, eine mittelalterliche Ideologie wie den Islamismus verklären, weil man sich mit diesen Kräften im gemeinsamen Kampf gegen den – Zitat – rassistischen Apartheidstaat Israel solidarisieren will.

Die ideologischen Überschneidungen dieses Kampfes mit dem rechtextremen Milieu sind offenkundig.

 

Diese Querfront hat es geschafft, ein Herzstück jüdischer Identität bis zu seiner Unkenntlichkeit semantisch umzudeuten. Das müssen wir uns vor Augen führen: Das Land, beziehungsweise die Bewegung jüdischer Selbstbestimmung, wird zum Angriff freigegeben.

Um den Mechanismen dieser öffentlichen Diskursverschiebung wirksam zu begegnen, müssen wir sie kennen. Der Normalisierungsprozess antisemitischer Rhetorik ist nämlich längst in vollem Gange.

Wie konnte es so weit kommen?

 

Wir befinden uns in Deutschland in einem Land, in dem Populisten nicht trotz, sondern wegen ihrer antisemitischen und rechtsextreme Aussagen gewählt werden. Einem Land, das antisemitische und menschenfeindliche Kontinuitäten aufweist.

Diese Kontinuitäten findet man in Einzelbiographien, im akademischen Betrieb, in der Politik und im Familienunternehmen.

Die antisemitische Diskursverschiebung, die wir derzeit erleben, kann nur so erfolgreich vollzogen werden, weil sie auf fruchtbaren Boden fällt.

 

Noch ist es im postnationalsozialistischen Deutschland gesellschaftlich geächtet und zuweilen strafrechtlich sanktioniert, sich offen antisemitisch zu artikulieren. Antisemitisch ist demnach immer der oder die andere.

Antisemitisch will niemand sein, es passt weder in das Selbstbild links-progressiver Intellektueller, noch in das Selbstbild rechtsextremer Parlamentarier.

Der Antisemitismus sucht sich also neue Äußerungsformen – und sucht sich häufig den Umweg über den Zionismus, bzw. Anti-Zionismus als Chiffre.

 

In islamistischen Milieus wird der Kampf gegen Israel als universeller und religionsübergreifender Auftrag im Namen der Menschlichkeit verherrlicht und propagiert. Was darauf hinausläuft, dass egal welcher Religion oder welchem politischen Lager man angehöre, es vernünftig und im Sinne der Menschlichkeit sei, antizionistisch zu sein. Dies zeigt sich an Parolen, wie:

„Gläubige Juden, Christen und Muslime seid vereint. Palästina wird befreit!“

 

Wir stellen fest: Antisemiten geben vor, die völlig Verblendeten glauben es gar ernsthaft, mit Judenhass die Welt zu retten. Wir stellen auch fest, dass Anti-Zionismus mittlerweile wieder im politischen Vokabular als Schlachtruf salonfähig geworden ist.

Denn, Antizionismus ist mittlerweile mit popkultureller Coolness aufgeladen. Und das nehmen viele als Freifahrtschein auf, sich stolz als Anti-Zionisten zu bekennen. Menschen, die Israel in Anführungszeichen schreiben oder sich schlichtweg weigern Israel auszusprechen.

Für sie ist Tel Aviv eine illegitime Stadt in Palästina. All das wird begleitet von einem fehlgeleiteten dogmatischen Gerechtigkeitsempfinden.

Man will sich sicher sein, auf der Seite der Guten zu stehen. Im antizionistischen Diskurs wird nämlich der jüdische Staat mit den schlimmsten Charakteristika der Geschichte Europas gleichgesetzt: Nationalsozialismus, Rassismus, Imperialismus und Kolonialismus.

 

Daraus wird geschlussfolgert: Soll Frieden hergestellt werden, muss Israel vernichtet werden. Das Ausmaß an Externalisierung der eigenen, teils schlecht bis gar nicht aufgearbeiteten Geschichte, verschlägt mir die Sprache.

 

Weitere spürbare Konsequenzen dieser antisemitischen „Denkschule“ sind: Die Hemmschwelle, Gewalt gegen Juden auszuüben oder dazu aufzurufen, sinkt. Man meine ja nur Zionisten.

Schon vor 125 Jahren war die zionistische Bewegung heterogen: da waren die sozialistischen Zionisten mit der Kibbuzbewegung. Daneben gab es die Kulturzionisten, denen es um jüdische Identität und die hebräische Sprache ging. Es gab nur wenige religiöse Zionisten. Und heute sieht es noch diverser aus.

Auch die aktuelle Regierungskoalition steht nicht für Zionismus, wie ich ihn begreife. Ganz im Gegenteil.

 

Ich habe den Bezug zu meinem Geburtsland Israel, das maßgeblich meine Identität und mein Denken geprägt hat, nie verloren.

Meine Eltern flohen 1938 aus vor der Verfolgung und Diskriminierung aus dem nationalsozialistischen Deutschland in das damalige Mandatsgebiet Palästina, nach Eretz Israel. Sie wurden Teil des ,,Yishuv“, der jüdischen Gemeinschaft in der Periode vor der Staatsgründung. Sie erlebten aus nächster Nähe, wie aus der zionistischen Bewegung und dem Streben nach Selbstbestimmung 1948 in der historischen Heimstätte des jüdischen Volks der Staat Israel entstand.

Ich kam 1954, nur sechs Jahre später, in der Hafenstadt Haifa zur Welt.  Da meine Eltern mit mir zurück nach Franken zogen, als ich noch ein kleines Kind war, kann ich mich nicht so gut an den jungen jüdischen Staat erinnern.

Dennoch würde ich mich als Teil der Generation ,,neuer Jude“ bezeichnen, ganz im Sinne des zionistischen Ideals. Nach über 2000 Jahren im Exil wurde ich als freier Jude in einem freien Land geboren.

 

Diese von mir beschriebenen Jahre meiner Familiengeschichte waren stark ideologisch durch den Zionismus, insbesondere durch den Einfluss des Staatsgründers David Ben-Gurion, geprägt. Es war eine Zeit der Hoffnung und des Glaubens an eine andere und bessere Zukunft für das jüdische Volk im eigenen Staat.

Was wissen selbsternannte Anti-Zionisten über Biographien wie meine? Über die pluralen Zugänge zu der israelischen Staatsgründung und der ihr vorausgegangenen zionistischen Bewegung?

Meine Hoffnung ist, dass gerade junge Jüdinnen und Juden sich offen solidarisch mit Israel positionieren können, ohne dabei ihre Sicherheit aufs Spiel zu setzen oder sich rechtfertigen zu müssen. Und ohne die Erfahrung zu machen, dass man allen Jüdinnen und Juden das Existenzrecht in einem souveränen Staat abspricht.

 

Im Moment sieht es leider düster aus. Gerade Universitäten, Schulen und die Räume, in denen sich junge Menschen bewegen, sind in den vergangenen Monaten teilweise zu „No-Go-Areas“ für Juden geworden.

 

Ich danke Ihnen allen, dass Sie auf der heutigen Konferenz mit klarem Blick, ohne Scheuklappen, diese Probleme ansprechen und Lösungen aufzeigen.

 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Weitere Artikel

„Jüdisches Leben in Deutschland – Was tut die...

Grußwort Dr. Josef Schuster, Veranstaltung „80 Jahre Befreiung von Auschwitz“ der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, 19.1.2025

Begrüßung Verleihung Leo-Baeck-Preis 2024

Dr. Josef Schuster, 13.11.2024 in Berlin

Gedenkveranstaltung der Stadt Halle 9. Oktober

Rede Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Einweihung Militärrabbinat und Übergabe der Tora

Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster