Grundsteinlegung Neue Synagoge Gelsenkirchen



Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Dr. h.c. Paul Spiegel

Platz der alten Synagoge Ecke Gildenstraße/ Georgstraße in Gelsenkirchen am 09. November 2004

(Es gilt das gesprochene Wort)

die gerade skizzierten Empfindungen werden von vielen Nichtjuden geteilt: Die Mehrheit der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung empfindet den Bau neuer Synagogen und die damit verbundene Wiederbelebung jüdischen Lebens als erfreulich oder doch zumindest positiv. Die in den vergangenen Jahren immer häufiger stattfindenden Grundsteinlegungen für jüdische Gotteshäuser werden mit einer gewissen Erleichterung wahrgenommen oder auch als Trost empfunden angesichts der während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen begangenen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung. Insgesamt gelten die neuen Synagogen als Symbole der Hoffnung für eine bessere gemeinsame Zukunft. Diese Empfindungen teilt die Mehrheit, keinesfalls jedoch die Gesamtheit der Bevölkerung. Rund vierzehn Prozent der Nichtjuden in Deutschland tragen antisemitische Vorurteile mit sich herum und viele von ihnen zählen zum extrem rechten Wählerspektrum. Ein leider nicht kleiner werdender harter Kern dieser Personengruppe ist gewaltbereit und macht in Worten und Taten keinen Hehl aus ihrem Hass gegen Juden und andere Minderheiten. Die Grundsteinlegung für eine Synagoge ist für diese Menschen eine Provokation.

Ein beängstigender Beweis für die Richtigkeit dieser Feststellung war genau vor einem Jahr die Bombendrohung anlässlich der Grundsteinlegung für das jüdische Zentrum Jakobplatz in München. Dank der Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden konnte der geplante Terroranschlag verhindert werden. Inzwischen sind die Drahtzieher ermittelt und stehen in diesen Wochen vor Gericht. Der Prozess offenbart, dass allem Anschein nach zwar kein bundesweit operierendes rechtsradikales Terrornetz existiert, einzelne regionale Gruppen jedoch brandgefährlich und in ihrer Gewaltbereitschaft zum Teil entschlossen sind, bis zum Äußersten zu gehen. Einmal mehr zeigt sich zudem, wie hoch der Organisationsgrad an der Basis ist. Sympathisierende Jugendliche werden eingegliedert in eine Art rechtsextremes Sektenleben und mit Drohungen oder Gewalt bei der Stange gehalten. Strukturen, die besonders in Ostdeutschland, aber, wie der Münchner Prozess zeigt, auch im Westen anzutreffen sind. Der Anteil von zwanzig Prozent Erstwählern am Wahlergebnis der NPD in Sachsen spiegelt das Ausmaß an Einfluss der rechten Rattenfänger auf die Jugendszene wider. Eine verhängnisvolle Entwicklung, die in ihrem ganzen Ausmaß nur ungenügend registriert und bekämpft wird. Der entsetzte Aufschrei am Wahlabend über den Einzug von Vertretern rechtsradikaler Parteien in die Landesparlamente von Sachsen und Brandenburg ist längst verhallt. Inzwischen haben sich die Landtage konstituiert und die übrigen Fraktionen haben sich über Strategien im parlamentarischen Umgang mit den Rechten verständigt – nun wird wieder der Alltag einziehen. Dabei besteht dringender Handlungsbedarf. Auch mit Blick auf die nächste Bundestagswahl. Eine rechtsradikale Fraktion im Deutschen Bundestag wäre für die hier lebenden Minderheiten ein ebenso verheerendes Signal wie für das Ausland. Politik und Gesellschaft sind deshalb gefordert, möglichst viele gefährdete Jugendliche und junge Erwachsene von ihrem Irrweg abzubringen.

Anrede,

die aktuellen Wahlergebnisse und das Erstarken der NPD bereiten uns Sorge, erschüttern jedoch nicht unser prinzipielles Vertrauen in die demokratische, rechtstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Diese Feststellung aus dem Munde eines Juden, dessen Familie unmittelbar vom Holocaust betroffen war, verdeutlicht die gewaltige politische und gesellschaftliche Entwicklung, die in diesem Land in den vergangenen sechs Jahrzehnten vonstatten gegangen ist. Gewaltig ist die treffende Charakterisierung für diesen Prozess angesichts der Tatsache, dass in Deutschland ab 1933 zwölf Jahre hindurch ein Zustand der Rechtlosigkeit vorherrschend war. Es existierte eine staatliche Ordnung, die in ihrer Brutalität, ihrer Menschenverachtung, ihrer rechtlichen Willkür und der Konsequenz ihres verbrecherischen Handelns einzigartig war. Der Novemberpogrom 1938 mutet vor diesem Hintergrund wie ein perverser, barbarischer „Testlauf“ an: Die Nazi-Führung stellte die nichtjüdische Bevölkerung gleichsam auf die Probe, wie brutal in der Verfolgung der Juden vorgegangen werden kann, ohne Widerstand zu provozieren. Nach Auswertung der nächtlichen Gewaltorgie konnten sich die Strategen der Vernichtung in ihren Plänen gestärkt fühlen. Die übergroße Mehrheit der Nichtjuden hatte in dieser Nacht bei Plünderungen, Gewaltverbrechen und Verhaftungen verschämt weggeschaut, gegafft, teilweise sogar applaudiert oder, wie in der Gelsenkirchener Gildestraße, die Zerstörung der Synagogen und jüdischen Einrichtungen schweigend hingenommen. Goebbels und Konsorten konnte nicht einmal der Vorwurf gemacht werden, nicht mit offenen Karten gespielt zu haben. Schließlich hatten sie in den vorangegangenen fünf langen Jahren immer stärker, immer hasserfüllter, immer reißerischer und polemischer den Weg in den Abgrund skizziert. Kein Artikel und keine Ansprache waren zweideutig, hintersinnig oder etwa nur für Eingeweihte verständlich gewesen. Die schlichten Worte, raffinierten Verleumdungen und vermeintlich schlüssigen Argumentationsketten zielten auf die Massen ab und erreichten sie. Durch die Gleichschaltung der Medien war zudem die flächendeckende Verbreitung der teuflisch-genialen Polemik sichergestellt worden. Das schon zu dieser Zeit von Goebbels beschworene Ziel eines „judenreinen Reichs“ mag für den Einzelnen nicht erkennbar gleichbedeutend gewesen sein mit dem, was wenig später in den Todesfabriken von Auschwitz, Majdanek und Treblinka stattfand. Doch war nicht alles, was bis Mitte November 1938 geschehen war, schon schrecklich und menschenverachtend genug? Diese Frage wird für alle Zeit ebenso unbeantwortet bleiben wie die Frage nach der Seele, den Gefühlen und dem Gewissen der Täter und Millionen Mitläufer. Für die Millionen Toten, die Überlebenden und Nachgeborenen bleibt nur die Hoffnung auf eine höhere Gerechtigkeit.

Anrede,

am 9. November 2004 und wenige Monate vor dem 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz legen wir hier in Gelsenkirchen gemeinsam den Grundstein für eine neue Synagoge und demonstrieren damit, dass ein Neuanfang auf deutschem Boden möglich ist. Ein Neuanfang, den die hiesige jüdische Gemeinde, das darf an diesem Tag nicht übergangen werden, nicht allein aus eigener Kraft hätte verwirklichen können. Erst der Zuzug von Jüdinnen und Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion hat diese Wiederbelebung jüdischen Lebens ermöglicht. Es zählt zu den seit Jahrhunderten zu beobachtenden grauenvollen, ja zynischen Auswüchsen des Antisemitismus, dass Flucht und Vertreibung von Juden eine Renaissance jüdischen Lebens an anderen Orten zur Folge hat. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erlebt diese Wiederbelebung nicht ausschließlich, aber im Wesentlichen aufgrund des nach wie vor antisemitischen Klimas in vielen Staaten Osteuropas. Ich möchte deshalb den heutigen Anlass auch nutzen, um die neu zugewanderten Gemeindemitglieder hier in Gelsenkirchen wie an anderen Orten Deutschlands einmal mehr willkommen zu heißen. Viele von ihnen haben gezwungenermaßen Ihre angestammte Heimat verlassen und Sie alle hoffen auf eine bessere Zukunft in Deutschland. Die hiesige jüdische Gemeinschaft, vertreten durch den Zentralrat, wird alles in ihren Kräften stehende tun, um Ihnen auf diesem schwierigen Weg zur Seite zu stehen.

Anrede,

der Bau einer neuen Synagoge wurde notwendig, weil die Gelsenkirchener Gemeinde erfreulicherweise inzwischen rund 600 Mitglieder umfasst. Das Leben lehrt uns, dass nicht alles, was notwendig wäre, realisiert werden kann. Auch dieses Projekt bliebe ein schöner Traum ohne die großzügige Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Gelsenkirchen. Den Verantwortlichen beider „Geldquellen“ sei auf diesem Wege ausdrücklich auch für die sonstige umfangreiche Hilfe gedankt. Dank und Anerkennung möchte ich zudem allen Spendern und Gemeindemitgliedern aussprechen, die mit ihren Gaben ebenfalls mithelfen, die Gildestraße wieder zu einem Treffpunkt von Juden und Nichtjuden werden zu lassen. Sie alle tragen zur Vollendung eines Gebäudes bei, das hoffentlich für immer ein Ort des Glaubens und des nachbarschaftlichen, freundschaftlichen Miteinanders im Gelsenkirchener Stadtleben sein wird. Ich danke Ihnen.

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