"Große Herausforderungen im neuen Jahr"



Foto: Andreas Kneitz

Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Dr. Josef Schuster, beim Neujahrsempfang der Stadt Würzburg, 10.01.2016

Anrede,

im Herbst des gerade zu Ende gegangenen Jahres bekam ich in Würzburg Besuch von einem Journalisten aus Berlin. Wir trafen uns zum Mittagessen im Juliusspital und unterhielten uns. Ich muss in dem Gespräch auch irgendetwas über Obergrenzen für Flüchtlinge gesagt haben – ich erinnere mich gar nicht mehr genau – und plötzlich sprach die ganze Republik darüber.

Was die Medien landauf, landab aber gar nicht wahrnahmen, war das, was der Journalist über Würzburg geschrieben hatte. Und ich freue mich sehr, dass ich heute die Gelegenheit habe, anlässlich des traditionellen Neujahrsempfangs ein wenig über unsere Stadt zu sprechen, und bedanke mich für diese Einladung!

Der Journalist beschrieb Würzburg als Oase der Ruhe. „Seelenruhe der fränkischen Provinz“ nannte er das. Bedächtig, ruhig, zufrieden lauteten die Attribute, die er für unsere Stadt wählte. Nun mag ein wenig hauptstädtische Arroganz im Spiel gewesen sein, aber im Wesentlichen gebe ich ihm Recht: Selbst im Jahr 2015, mit vielen Ereignissen, die uns auch in Würzburg bewegt und beunruhigt haben, mit Herausforderungen, die sich auch in unserer Stadt niemand ausgemalt hätte, selbst in diesem Jahr 2015 hat unsere Stadt etwas sehr Kostbares geboten: Seelenruhe.

Als Arzt kann ich Ihnen versichern: Dafür können wir dankbar sein! Nein, auch im Ernst: Natürlich können wir in jeder Hinsicht dankbar sein, dass das Jahr 2015 in unserer Region, ja in unserem ganzen Land ein weitgehend friedliches Jahr war. Denn es begann wahrlich mit einem Schock: Vor ziemlich genau einem Jahr, am 7. Januar 2015, griffen islamistische Terroristen die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo an und töteten elf Mitarbeiter und einen Polizisten. Zwei Tage später fand die Geiselnahme im jüdischen Supermarkt statt, die mit vier Toten endete.

Das hat die Menschen in ganz Europa aufgeschreckt. Wohl die meisten von uns sind schon einmal in Paris gewesen. Der islamistische Terror rückte uns plötzlich sehr nahe. Und am Ende des vergangenen Jahres wurde erneut Paris Opfer dieser Fanatiker.

Das lässt auch bei uns viele Menschen bange fragen, wie sicher wir noch sind. Bisher haben wir uns nicht einschüchtern lassen: Wir besuchen weiterhin Fußballspiele und Weihnachtsmärkte und Konzerte. Und daran müssen wir auch festhalten! Absolute Sicherheit gibt es ohnehin nicht. Wir dürfen uns unsere freiheitliche Gesellschaft nicht von den Terroristen zerstören lassen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

sehr viel stürmte 2015 auf uns ein. Ein Thema stand im vergangenen Jahr im Zentrum und wird auch in diesem Jahr unsere ganze Kraft erfordern: die große Zahl an Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen sind und weiterhin kommen. Hier in Würzburg waren es 2015 rund 2.400 Menschen, denen wir eine Zufluchtsstätte geboten haben. Und wir haben – da bin ich mit unserer Kanzlerin ganz auf einer Linie – wir haben eine Menge geschafft. Würzburg ist ohnehin eine Stadt mit viel ehrenamtlichem Engagement. Im vergangenen Jahr aber nahm die Hilfsbereitschaft der Bürger eine neue Dimension an. Auch die städtischen Angestellten können sich nicht erinnern, schon einmal eine solche Welle an Hilfsbereitschaft erlebt zu haben. Mehr als 1.000 ehrenamtliche Helfer für die Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr allein bei der Stadt registriert.

Es gab ein Willkommensfest für Flüchtlinge. Kirchengemeinden, Vereine, Verbände wie Caritas, Diakonie und Rotes Kreuz sind ebenso engagiert wie unzählige kleinere Initiativen. Die Gemeinschaft Sant’Egidio erhielt für ihr Engagement zu Recht den Bürgerpreis des bayerischen Landtags!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

dieses außerordentliche Engagement beeindruckt mich – und es macht mich stolz auf meine Stadt!

Uns allen ist aber auch deutlich geworden: Wenn die Flüchtlingszahlen in der Größenordnung bleiben wie 2015, werden wir an unsere Grenzen stoßen. Der Staat muss stärker regulieren, sonst könnte auch die Akzeptanz in der Bevölkerung schwinden. Denn eigentlich war 2015 erst der Anfang: Wir stehen vor einer Mammutaufgabe. Es ist zu erwarten, dass die überwiegende Zahl der Menschen, die zu uns gekommen sind, hier bleiben wird. Es geht dann nicht mehr um Notunterkünfte und Erstversorgung. Dann geht es um Arbeitsplätze, Wohnungen, Deutsch- und Integrationskurse und den regulären Schulbesuch der Kinder. Es muss unser Ziel sein, diese Menschen besser in unsere Gesellschaft zu integrieren, als uns das in den zurückliegenden Jahrzehnten mit den Migranten gelungen ist. Parallelgesellschaften, eine Ghettoisierung, gar eine Paralleljustiz – und all das ist in deutschen Großstädten bereits anzutreffen – solchen Entwicklungen müssen wir entgegenwirken.

Wir müssen unseren Rechtsstaat samt den Werten, auf denen er basiert, verteidigen. Dieser Rechtsstaat akzeptiert weder Mord, noch Ehrenmord. Die Menschenwürde kommt allen Menschen zu, selbstverständlich auch Frauen. Religionsfreiheit bedeutet auch, jeglichen Glauben ablehnen zu dürfen.

Für uns sind diese Dinge selbstverständlich. In Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan sind sie es nicht. Die Flüchtlinge müssen diese Grundwerte erst lernen. Ich will ihnen nicht absprechen, dass sie nicht bereit dazu wären. Wir sollten aber auch nicht denken, dass die gesellschaftliche Integration von selbst gelingt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehen Sie es mir nach, dass ich auch ein Wort aus Sicht der jüdischen Gemeinschaft dazu verliere. Uns ist womöglich stärker bewusst, aus welcher Umgebung die Flüchtlinge kommen. In Ländern wie Syrien gelten zum Beispiel die Protokolle der Weisen von Zion als historisches Dokument und finden sich in Buchhandlungen. Im Schulunterricht werden gerne Landkarten verwendet, auf denen Israel nicht existiert. Den Kindern wird von klein auf vermittelt, Muslime würden weltweit von Juden unterdrückt.

Warum sollten die Menschen diese Einstellungen ablegen, wenn sie die Grenze nach Deutschland überschreiten? Und daher gibt es in unseren Gemeinden auch Sorgen, und wir sind so frei, diese Sorgen öffentlich zu artikulieren. Denn auch die kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland will ihren Platz in dieser Gesellschaft behalten.

Wir sehen zugleich: Wenn es gut läuft, kann unser Land durch die Flüchtlinge sehr gewinnen. Gewinnen an Wirtschaftskraft, gewinnen an kultureller Offenheit, gewinnen an Toleranz. Die Willkommenskultur, die sich auch hier in Würzburg etabliert hat, leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Und daher danke ich ganz herzlich allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich ehrenamtlich engagieren, aber auch jenen, die hauptberuflich in der Flüchtlingshilfe aktiv sind!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

im vergangenen Jahr war nicht nur das bürgerschaftliche Engagement für die Flüchtlinge ermutigend. Zwei Ereignisse haben mich 2015 besonders gefreut: Am 14. März hieß es „Würzburg ist bunt“. 5.000 Menschen versammelten sich, um ein Zeichen zu setzen gegen Neonazis und Rechtsextremismus. Auch hier war die Bürgerschaft aktiv geworden. Die Demokraten standen zusammen gegen Rechts.

Es ging nicht darum, die Zerstörung Würzburgs vor 70 Jahren zu relativieren. Aber die Verdrehung von Ursache und Folgen, wie die Rechtsextremen das gerne machen, wollten die Würzburger Bürger nicht mitmachen. So kam er zu der bunten Demo. Sogar Erwin Pelzig, also Frank-Markus Barwasser, staunte: Sonst sei ja Würzburg eher für seine beigen Windjacken bekannt. Auf diesen Spott reagieren wir mit der Seelenruhe der Provinz…

Daneben gab es noch etwas, das mich gefreut hat. Seit Jahren bin ich über dieses Engagement sehr froh: Wieder sind in Würzburg Stolpersteine verlegt worden, im zurückliegenden Jahr waren es 28. Sie erinnern an jüdische Bürger, die in der NS-Zeit ermordet wurden oder fliehen mussten. Ohne das Engagement des Arbeitskreises Stolpersteine und vieler einzelner Bürger wäre es dazu nicht gekommen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz ein paar Worte zu den Stolpersteinen generell sagen. Denn das liegt mir am Herzen. Ich schätze diese Form des Gedenkens, die den einzelnen Menschen hervorhebt. Die kleinen kupfernen Pflastersteine begegnen Passanten überall in der Republik. In Momenten, in denen die Menschen mit ihren Gedanken eigentlich ganz woanders waren, werden sie plötzlich mit der deutschen Geschichte konfrontiert. Ich halte dies für eine sehr gelungene Form des modernen Gedenkens.

Zugleich habe ich Verständnis dafür, wenn jemand nicht mit den Stolpersteinen zurecht kommt. Manche empfinden es so, als würden die Opfer erneut mit Füßen getreten. Und wenn sich München, unsere Landeshauptstadt, auf eine andere Form des Gedenkens verständigt hat, zum Beispiel auf Stelen, hat dies ebenso seine Berechtigung. Die Stolpersteine haben keinen Alleinvertretungsanspruch.

Hier in Würzburg aber begegnen uns die Stolpersteine inzwischen an vielen Stellen. Neben den Mahnmalen in unserer Stadt nehmen sie einen eigenen Platz ein und bereichern unsere Erinnerungskultur. Wir haben hier bisher nur gute Erfahrungen mit den Stolpersteinen gemacht. Ich danke daher dem Arbeitskreis Stolpersteine und allen Paten der Steine für ihr Engagement!

Wo wir gerade bei der Vergangenheit der Stadt sind: Vor kurzem war eine Mitarbeiterin des Zentralrats der Juden – der hat seinen Hauptsitz in Berlin – dienstlich hier. Sie hängte privat ein Wochenende in Würzburg dran und stieg tapfer auf die Festung Marienberg. Im Museum fiel ihr auf, dass sich der jüdische Teil der Stadtgeschichte auf die Jahre 1933 bis 1945 beschränkt. Auch ein paar alte, sehr schöne jüdische Kultgegenstände sind ausgestellt. Doch ihre Bedeutung wird dem Besucher nicht erläutert.

Die Kenntnisse des Judentums beschränken sich in der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland leider sehr häufig auf die Zeit des Nationalsozialismus. Welche Bedeutung aber das Judentum schon Jahrhunderte vorher für die deutsche Kultur und das Geistesleben hatte, ist wenig bekannt. Mir wäre es wichtig, wenn auch das jüdische Leben in Würzburg vor 1933 und nach 1945 im Fränkischen Museum eine deutlichere Rolle spielen würde.

Schmunzeln musste ich übrigens, als mir die Mitarbeiterin erzählte: Sie sei ja zunächst so angetan gewesen, wie viele kleine Bäckereien es noch in Würzburg gebe. Bis sie dann das Johanniterbäck betrat… Und sie sei ja nicht so ein Fan von Shopping-Malls, habe dann aber schnell begriffen, dass Brücken-Schoppen etwas ganz anderes ist und sehr sympathisch. Manchmal ist der Blick von außen gar nicht schlecht. Was für uns so selbstverständlich geworden ist, nehmen andere als kleines Juwel wahr. So ein Würzburger Juwel ist auch das Bürgerspital, das in diesem Jahr sein 700-jähriges Bestehen feiert. Wir freuen uns jetzt schon auf die Weinparty im Sommer!

Ob es im kommenden Jahr allerdings auch wieder königlichen Besuch geben wird, weiß ich nicht. Aber wir haben ja auch gelernt, dass königliche Hoheiten leider gar nicht immer so volksnah sind, wie wir dachten. Oder lag es daran, dass es die schwedische Königin war? Wenn wir weit in unsere Stadtgeschichte zurückblicken, bis in den 30-jährigen Krieg, treffen wir auf schlechte Erfahrungen mit dem schwedischen Königshaus.

Aber nein: Königin Silvia war ein gern gesehener Gast bei uns. Viele hatten stundenlang auf sie gewartet. Und verbunden war der Tag mit einer Benefizgala für die von ihr gegründete Childhood Foundation.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

königliche Gelassenheit werden wir sicher auch in diesem Jahr brauchen. Oder aber die Ausdauer von Florian Reus. Ich habe im vergangenen Jahr in einem Zeitungsartikel die Herausforderungen durch den Flüchtlingszustrom mit einem Marathonlauf verglichen. Über einen Marathonlauf kann Florian Reus von der LG Würzburg vermutlich nur müde lächeln. Der gebürtige Würzburger hat im vergangenen Jahr den Spartathlon gewonnen: Er ist sage und schreibe 246 Kilometer gelaufen! Und bereits im April war er Weltmeister im 24-Stunden-Lauf über 263,9 Kilometer geworden.

Und das waren nicht die einzigen sportlichen Erfolge für Würzburg! Die Würzburger Kickers schafften den Aufstieg in die dritte Liga. Und die S.Oliver Baskets spielen seit dem vergangenen Jahr sogar ganz oben mit. Zugegeben, gegen Alba Berlin haben sie jüngst verloren. Aber solche Erfolge können wir den Hauptstädtern schon gönnen, wenn schon ihr Flughafen nicht fertig wird…..

Sportler wie die Mannschaften der Würzburger Kickers, der S.Oliver Baskets oder wie Florian Reus haben alle etwas gemeinsam: Sie brauchten einen langen Atem und Durchhaltevermögen, um so erfolgreich zu sein.

Vielleicht sollten wir uns daran ein Beispiel nehmen, um die Herausforderungen des vor uns liegenden Jahres zu meistern. Es ist doch schön, dass wir solche Vorbilder gar nicht in der Ferne suchen müssen, sondern gleich in unserer eigenen Stadt haben.

Was wird uns das neue Jahr bringen? Diese Fragen stellen wir uns alle, für unser Privatleben, für die Stadt, für unser Land.

Ich wünsche Ihnen und uns allen ein friedliches und glückliches Jahr, in dem Sie gesund bleiben, in dem sich Ihre Hoffnungen erfüllen, in dem wir zu einem guten Miteinander mit den neuen Bürgern der Stadt finden und in dem unsere Seelenruhe gewahrt bleibt!

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