Am 29. April 1945 befreite die US-Armee das Konzentrationslager Dachau. Jedes Jahr wird mit Gedenkfeiern an die Befreiung erinnert. Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern lädt stets zu einem Gedenkakt am jüdischen Mahnmal ein. Seit nunmehr 19 Jahren nehme ich als Präsident des Landesverbands an dieser Gedenkfeier teil.
Es ist für mich immer besonders bewegend, den Überlebenden des Lagers zu begegnen. Sie sind inzwischen hochbetagt, nehmen aber viele Strapazen auf sich, um an der Gedenkfeier teilzunehmen. Im vergangenen Jahr, ausgerechnet zum 75. Jahrestag der Befreiung, musste die Gedenkfeier wegen der Corona-Pandemie ausfallen – das war für uns alle sehr schmerzhaft, ganz besonders für die Überlebenden.
Mich begleiten Gedenkfeiern in Dachau, gefühlt, allerdings schon mein Leben lang. Denn Dachau gehört unauflösbar zur Geschichte meiner Familie. Schon als kleiner Bub wurde ich von meinen Eltern zur jährlichen Gedenkfeier mitgenommen.
1930 stieg mein Vater David Schuster, damals ein junger Mann von 20 Jahren, in Bad Brückenau in das Textilgeschäft seiner Eltern ein. Zwei Jahre übernahm er dann auch Aufgaben im familieneigenen Hotel. Das damalige Hotel „Central“ in der Unterhainstraße war nicht das erste Haus am Platze, aber eines von zwei koscher geführten Hotels im Ort.
Doch diese glückliche Zeit währte nur kurz. Für die örtlichen Nazis war es inakzeptabel, dass Juden Inhaber von Geschäften und Hotels waren.
Im September 1937 verhafteten sie meinen Großvater und meinen Vater und brachten sie zunächst ins Gefängnis der Stadt, kurz danach ins KZ Dachau. Mein Opa und mein Vater hatten sich nichts zuschulden kommen lassen. Es stand jedoch ein Betrugsvorwurf im Raum. Da sie jüdisch waren, wurde dieser Vorwurf sofort für glaubwürdig erachtet. Es kam zu einem Verfahren.
Im Februar 1938 stand fest, dass an den Vorwürfen nichts dran war. Mein Opa und mein Vater kamen dennoch nicht frei. Sie wurden stattdessen ins KZ Buchenwald gebracht. Die Nazi-Diktatur hatte schon zu diesem Zeitpunkt mit einem Rechtsstaat nichts mehr gemein.
In dieser schweren Zeit stützten mein Großvater und mein Vater sich gegenseitig. Für meine Großmutter waren es furchtbare Monate der Ungewissheit.
Die Gestapo setzte meine Familie unter Druck, das Hotel für einen lächerlichen Betrag zu verkaufen. Sie winkten mit der Freilassung, wenn mein Großvater und mein Vater einwilligten, mit der Familie Deutschland sofort zu verlassen. Sie willigten ein. Am 16. Dezember 1938 kamen sie frei. Dann hatten sie genau drei Tage Zeit. Es hieß, Abschied zu nehmen von einem Land, in dem ihre Vorfahren seit rund 400 Jahren ansässig waren.
Doch dieses Deutschland war nicht mehr ihr Land.
Über Italien flohen meine Großeltern, mein Vater sowie eine seiner Schwestern ins damalige Palästina. Seiner anderen Schwester gelang die Emigration in die USA. Rückblickend muss man sagen: Gerade noch rechtzeitig.
Die Nazis von Bad Brückenau machten derweil unser Hotel zu ihrer örtlichen Zentrale.
1952 lernte mein Vater in Israel meine Mutter kennen. Sie stammte aus Oberschlesien und war während der Nazi-Zeit mit ihrer Schwester nach Palästina emigriert. Ihre Eltern schafften es nicht mehr. Sie wurden in Auschwitz ermordet.
1956, ich war damals zwei Jahre alt, kehrte meine Familie nach Würzburg zurück. Dank der Amerikaner hatten wir nach dem Krieg unseren Besitz in Bad Brückenau zurückerhalten. Doch wenn Sie, meine Damen und Herren, an die damaligen Kommunikationsmöglichkeiten denken – vieles ließ sich nur per Post regeln – dann können Sie nachvollziehen, wie schwierig es war, von Israel aus ein Gebäude in Unterfranken zu verwalten.
Und hinzu kam trotz allem auch wohl so etwas wie Heimweh bei meinem Großvater. Wer im hessisch-fränkischen Grenzgebiet groß geworden ist, den verpflanzt man nicht so leicht in einen heißen Mittelmeerstaat.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es gibt in meiner Generation viele Juden, die zu Hause vor allem eines erlebt haben: Schweigen. Die Eltern, die Schreckliches erlebt und überlebt hatten, waren nicht in der Lage, darüber zu sprechen bzw. sie wollten ihre Kinder verschonen. Dass sie mit ihrem Schweigen eine noch größere Last auf sie legten, war ihnen nicht bewusst.
Bei meinen Eltern war das anders. Die Schoa war zwar nicht ständig Thema, doch immer mal wieder erzählten sie etwas. Die Schoa war – so traurig das ist – Teil unserer jüdischen Identität.
Mein Vater war ein nüchterner Mensch. Es gelang ihm, auch mit dieser Vergangenheit relativ distanziert umzugehen. Nur Heuchelei war ihm zuwider. Die gab es in der Nachkriegszeit bei nicht-jüdischen Deutschen leider sehr häufig.
Die Frage, wie ehrlich und selbstkritisch die Deutschen mit ihrer braunen Vergangenheit umgehen, stellt sich bis heute. Was mir positiv auffällt: In den vergangenen zehn Jahren haben einige Unternehmen und medizinische Fachgesellschaften ihre NS-Vergangenheit aufarbeiten lassen. Das fiel leichter, weil die Generation der damaligen Täter und Verantwortlichen endgültig keine Ämter mehr innehat.
Was jedoch generell das Wissen über den Nationalsozialismus und die Schoa angeht – da bin ich manchmal erschüttert. Erschüttert über die Lücken, über die Defizite. Weder sind in der Breite der Bevölkerung die Fakten bekannt, noch kennen die Jüngeren die Verstrickung ihrer Großeltern und Urgroßeltern in die NS-Verbrechen.
Wenn hier nicht bald mehr Sensibilität erzeugt wird, dann darf sich Deutschland schon in naher Zukunft nichts mehr einbilden auf seine vorbildliche Aufarbeitung der Nazi-Zeit. Denn diese Aufarbeitung muss in jeder Generation neu geleistet werden.
Ich halte daher Mahnmale wie den DenkOrt, an dem wir hier stehen, für sehr wichtig. Gerade über die Lokalgeschichte sind Menschen erreichbar. Abstrakte Daten werden darüber greifbarer. In Würzburg können wir uns glücklich schätzen, dass wir engagierte Lokalpolitiker, Schulen und Bürger haben, die sich für die Erinnerung einsetzen. Nennen möchte ich Benita Stolz, die den Würzburger Arbeitskreis „Stolpersteine“ gegründet hat und bis heute die Vorsitzende ist. Sie gehört auch zu den Initiatoren des DenkOrtes.
Ebenso bin ich glücklich über unser Museum „Shalom Europa“, dessen Gründung auf meinen Vater zurückgeht. Denn hier sehen die Würzburger, dass es schon seit Jahrhunderten jüdisches Leben in der Stadt und Region gibt. Nur mit diesem Wissen lässt sich ermessen, was die Nazis in der Schoa zerstört haben.
Ich habe eingangs erwähnt, dass mich Gedenkfeiern in Dachau Zeit meines Lebens begleiten. Als ich etwa sechs Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zum ersten Mal mit. Mein Vater zeigte mir die Baracke, in der er damals mit meinem Opa untergebracht war.
Mir muss das unheimlich gewesen sein. Wahrscheinlich spürte ich instinktiv: Das ist kein guter Ort. Meine Eltern erzählten mir später, ich hätte immer gerufen: „Ich will hier weg, ich will hier weg.“
Das ist die verständliche Reaktion eines Kindes. Heute, als Erwachsener, weiß ich: Wir können vor der eigenen Vergangenheit nicht davonlaufen.
Deutschland kann vor seiner Vergangenheit nicht davonlaufen.
Wir dürfen nicht weglaufen und in der Gegenwart nicht wegschauen.
Es gilt, sich der Vergangenheit zu stellen, um heute klug zu handeln und solche Verbrechen nie wieder zu ermöglichen.
Das schulden wir allen Opfern des Nationalsozialismus, darunter sechs Millionen ermordeten jüdischen Frauen, Männern und Kindern.
Das schulde ich meinen Großeltern mütterlicherseits, die in Auschwitz umgebracht wurden.
Würzburg, 25.1.2021