Festakt 70 Jahre Deutscher Koordinierungsrat



Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, beim Festakt zum 70-jährigen Bestehen des Deutschen Koordinierungsrats der GCJZ, Frankfurt/M., 27.10.2019

Anrede,

vor kurzem hat Rabbiner Henry G. Brandt den Estrongo-Nachama-Preis erhalten. Und ich hatte die Ehre, die Laudatio halten zu dürfen. Wenn man sich mit dem Leben und Wirken von Rabbiner Brandt beschäftigt, befasst man sich automatisch mit dem christlich-jüdischen Dialog.

Dabei wurde mir wieder bewusst: In der Jahrtausenden alten jüdisch-christlichen Geschichte sind 70 Jahre nur wie ein Wimpernschlag. Doch wenn man einen genauen Blick auf die vergangenen 70 Jahre wirft, allein etwa am Beispiel eines Menschen wie Rabbiner Brandt, dann wird einem bewusst: Es ist sehr viel passiert in diesen sieben Jahrzehnten. Und zwar sehr viel Gutes!

Und daher möchte ich zu allererst meine Glückwünsche überbringen und meinen Dank aussprechen: Es lässt sich kaum erfassen, was all die ehrenamtlich Engagierten in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit sowie jene, die im Koordinierungsrat aktiv waren und sind, geleistet haben. Ihnen allen gilt der tiefe Dank der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland! Lassen Sie sich bitte heute gebührend feiern!

Werte Festgesellschaft,

Präsidenten des Zentralrats der Juden fällt in der Regel die Rolle des Mahners zu. Und leider gab und gibt es ja auch Anlass, um zu mahnen. Und eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute diese Rolle zu verlassen und den Blick ausschließlich auf das Gute zu richten, das in diesen 70 Jahren geschehen ist.

Doch dann kam Jom Kippur und der Terroranschlag in Halle.

Dieser Anschlag bedeutet für die jüdische Gemeinschaft, und ich möchte betonen: Nicht nur für die jüdische Gemeinschaft, sondern für unser ganzes Land eine tiefe Zäsur.

In weiten Teilen der Gesellschaft waren unsere Warnungen und Sorgen bezüglich des wachsenden Antisemitismus nicht wirklich ernst genommen worden. In der Politik blieb es häufig bei symbolischen Gesten.

Auch dem wachsenden Rechtsextremismus wurde zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Denn natürlich bewegen sich wir Bildungsbürger, bewegt sich die politische Elite nicht in Foren im Internet, in denen Ideologien, Theorien und eine Gewaltverherrlichung verbreitet wird, die sich niemand von uns ausmalen wollte.

Doch es gibt in Deutschland genügend Experten, die sich das antun: Sie befassen sich mit diesen unerträglichen, niederträchtigen Texten und haben immer wieder gewarnt. Sie haben sich auch sofort zu Wort gemeldet, als nach Halle von einem Einzeltäter die Rede war.

Weder für die Experten noch für die jüdische Gemeinschaft kam dieser Anschlag letztlich überraschend. Das Bedrohungsgefühl war längst da, und zwar seit Jahren.

Doch die Sorglosigkeit, vielleicht auch Gleichgültigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung und bei einigen Sicherheitsbehörden hat sich bitter gerächt. Mit ausreichendem Polizeischutz hätten zumindest die zwei Toten in Halle vermutlich verhindert werden können.

Jetzt sieht es danach aus, dass tatsächlich alle aufgewacht sind. Und ich hoffe, dass wir unser jüdisches Leben in Sicherheit fortsetzen können. Den Rechtsextremisten dürfen wir keinen Zentimeter Raum geben!

 

Wen wir seit Jahrzehnten an unserer Seite wissen, sind die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Hier waren die Antennen für die Lage der jüdischen Gemeinschaft schon immer besser als in anderen Teilen der Gesellschaft.

Vor 70 Jahren ist etwas gelungen, was vielleicht sogar noch bei der Gründung der ersten Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit kaum jemand zu hoffen gewagt hätte:

Mutige und kluge Frauen und Männer legten das Fundament für ein Haus des Dialogs der beiden Religionen.

Das Fundament musste auf tatsächlichen, vor allem aber auf seelischen und moralischen Trümmern errichtet werden. Eine fast unmögliche Aufgabe.

Es musste zugleich über einen Graben hinweg tragen. Spätestens hier würde jeder Architekt abwinken. Geht nicht!

Doch die Gründer der Christlich-Jüdischen Gesellschaften bewiesen: Es geht doch. Sie glaubten daran.

Heute muss ich sagen: Sie waren Visionäre.

Denn tatsächlich ist es landauf, landab gelungen, ein so solides Fundament zu bauen, dass das Haus bis heute steht.

Doch wie es in den besten Familien vorkommt - erst recht, wenn die Verwandtschaft zu Besuch ist - gibt es schon mal dicke Luft. Es braucht dann ein paar Familienmitglieder, die ausgleichen können. Denn dann setzen sich zum Schluss alle wieder an einen Tisch.

Das ist für mich der christlich-jüdische Dialog.

Ein paar Beispiele für die Stimmungsschwankungen in der Familie will ich Ihnen nennen.

Beim Bau des Hauses gab es ein paar Meilensteine: zu nennen ist das Konzilsdokument „Nostra Aetate“. Zu nennen sind aber auch die verschiedenen Schuldbekenntnisse evangelischer Landeskirchen und der EKD. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 gehörte zu den Voraussetzungen, um den Graben zwischen Christen und Juden zuschütten zu können, auch wenn darin der Mord an den Juden gar nicht explizit erwähnt wurde. Zur damaligen Zeit war es dennoch ein großer Schritt.

Als das Haus gebaut war, gab es – wie gesagt – auch mal dicke Luft. Zum Beispiel 2008. Der damalige Papst hatte die alte Karfreitagsfürbitte für den lateinischen Ritus wieder eingeführt, woraufhin einige Rabbiner ihre Teilnahme am Katholikentag absagten.

Und 2009 hob Papst Benedikt XVI. die Exkommunizierung von vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft auf, darunter der Holcoaust-Leugner Richard Williamson.

Anspannung herrschte auch im Vorfeld des Reformationsjubiläums. Auf jüdischer Seite stellte sich die Frage, ob es zu einem Luther-Jubeljahr werden würde. Hier hat es – wie in vielen anderen Fragen auch – sehr geholfen, dass wir uns an einen Tisch gesetzt und geredet haben.

Denn die EKD vermied nicht nur die Jubelarien, sondern nutzte das Reformationsjubiläum für eine erneute, sehr selbstkritische Auseinandersetzung mit den judenfeindlichen Schriften Martin Luthers.

Und dann gab es das Jahr 2012 mit einem Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung. Hier zog von außen ein eisiger Wind durchs Haus, der fast so stark wurde, dass er die jüdischen Bewohner hinausgepustet hätte.

Doch hier zeigte sich, wie stark das Fundament der christlich-jüdischen Zusammenarbeit ist. Es war bestimmt die größte Bewährungsprobe der vergangenen Jahrzehnte: Wie kein anderer stellten sich beide christlichen Kirchen an die Seite der jüdischen Gemeinschaft. Sie stellten sich als erste dem eisigen Wind entgegen. Und warfen ihr ganzes Gewicht in die Waagschale. Diese Solidarität ließ die Mauern des gemeinsamen Hauses noch etwas dicker werden.

Und wenn ich mir all diese Ereignisse der vergangenen 70 Jahre vor Augen führe – und ich habe nur einen Bruchteil dessen, was geschehen ist, erwähnt – dann bin ich zuversichtlich: Das Fundament wird auch in den nächsten 70 Jahren tragen.

Wir müssen allerdings weiter daran arbeiten. Wir müssen hin und wieder dicke Luft aushalten. Wir müssen streiten über die Dinge, die immer noch zwischen uns stehen. Und wir werden hoffentlich immer wieder Persönlichkeiten unter uns haben, die uns an den gemeinsamen Tisch zurückführen.

Das wünsche ich den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und dem Deutschen Koordinierungsrat und das wünsche ich unserem Land.

Masal Tow und bis 120!

 

 

 

 

 

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