Fachtag „Antisemitismus – Erkennen und Handeln“



Grußwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Dr. Josef Schuster, beim Fachtag „Antisemitismus – Erkennen und Handeln“, Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, 25.7.2018, München

Fotos: StMAS/Nikolaus Schäffler

Anrede,

Worüber sprechen wir, wenn wir heutzutage über Antisemitismus reden? Das möchte ich Ihnen anhand eines kurzen, fiktiven Beispiels veranschaulichen:

Auf einer Party sagt einer der Gäste:

„Was die Israelis mit den Palästinensern machen, ist ja unmöglich.“ Er erntet zustimmendes Kopfnicken. Der Partytalk kommt richtig in Fahrt. Jeder hat eine Meinung. Gaza sei wie das Warschauer Ghetto. Israel ein Apartheidstaat und so weiter.

Und damit, werte Zuhörerschaft, sind wir mitten im Thema.

Dieser Partytalk über Israel - ist das Antisemitismus?

Ich würde sagen: Ja. Doch wer kann diese Frage noch mit Sicherheit beantworten?

Seit sich zu dem klassischen und sekundären Antisemitismus die Israel-Feindlichkeit als dritte Form gesellt hat, verschwimmen oft die Grenzen. Antisemitische Äußerungen fallen häufiger und offener. Juden fühlen sich häufiger diskriminiert.

„Antisemitismus – Erkennen und Handeln“, so ist der heutige Fachtag überschrieben. Ich bin dem bayerischen Sozialministerium dankbar, dass Sie diese Tagung mit so hochkarätigen Experten ausrichten.

Denn es besteht dringender Handlungsbedarf.

Und bei der Erkenntnis hapert es auch noch an vielen Stellen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich halte es tatsächlich für essenziell, dass wir uns über die Definition von Antisemitismus intensiv Gedanken machen und zu einer gemeinsamen Haltung finden. Zum Glück fangen wir nicht bei Null an.

Da ist zum einen die Antisemitismusdefinition der Internationalen Holocaust Gedenkallianz, die im vergangenen Jahr von der Bundesregierung angenommen wurde.

Sie lautet:

 „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

Die Definition soll in Deutschland sowohl in der Schule als auch in der Ausbildung von Justiz und Polizei angewendet werden.

So theoretisch diese Implementierung auf den ersten Blick scheinen mag – wir können Antisemitismus nur dann wirksam bekämpfen, wenn wir uns einig sind, was Antisemitismus ist. Das zeigt uns Großbritannien. Seitdem das Land die working definition der Holocaust Gedenkallianz formell angenommen hat, lässt sich dort eine höhere Sensibilität in der Erfassung antisemitischer Straftaten feststellen.

Daneben liegt seit rund einem Jahr der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus vor. Es ist nach meiner Einschätzung der seit langem fundierteste Bericht über den aktuellen Antisemitismus in Deutschland. Und es ist sehr zu begrüßen, dass Sie sich auch heute mit dem Bericht befassen und mit Frau Chernivsky auch ein Mitglied des Expertenkreises unter den Referenten haben.

Der Expertenkreis hat sich ausführlich mit der Frage der Definition von Antisemitismus befasst und diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet.

Die verschiedenen Formen des Antisemitismus machen seine Bekämpfung schwierig. Es geht eben nicht mehr nur um jene Menschen, die mit alten Vorurteilen Juden direkt beschimpfen oder ein Hakenkreuz an die Wand schmieren. Sondern wir treffen häufig auf Menschen, die etwa Kritik an Israel mit tradierten antisemitischen Klischees verknüpfen. So wie ich es eingangs mit dem Beispiel vom Party-Talk versucht habe, zu veranschaulichen.

Diese Menschen würden den Vorwurf, antisemitisch zu sein, weit von sich weisen. Inzwischen wirkt die sogenannte Israel-Kritik jedoch wie ein schleichendes Gift. Was früher ein Tabu war, wird heute ausgesprochen. Diese Tendenz breitet sich insgesamt in unserem Land aus.

Das gilt ganz massiv für das Internet, wie erst jüngst die Studie der TU Berlin gezeigt. Grob zusammengefasst haben die Wissenschaftler eine Vervierfachung antisemitischer Äußerungen im Netz seit 2007 festgestellt.

Antisemitismus in Form einer Ablehnung Israels wird auch von Migranten verbreitet, die aus dem arabischen Raum stammen. Sie sind mit Israel als Feindbild aufgewachsen. Und in arabischen Fernsehsendern, die sie auch in Deutschland empfangen können, wird dieses Feindbild weiterhin gepflegt.

Der Unabhängige Expertenkreis hat für seinen Bericht auch Befragungen unter Juden vornehmen lassen. Dabei wird das gerade beschriebene Phänomen sichtbar. Viele Juden haben in dieser Umfrage berichtet, dass sie ständig verantwortlich gemacht werden für die israelische Politik oder gleich als Vertreter Israels gesehen werden. Sie werden nicht als Deutsche wahrgenommen. Es findet eine soziale Exklusion statt.

Und das, meine verehrten Zuhörerinnen und Zuhörer, haben wir Juden alles schon einmal erlebt. In unseren Familien spielen die Geschichten von Ausgrenzung, Flucht und Verfolgung bis zur Ermordung nach wie vor eine große Rolle. Unsere Sensoren für diese Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Ihr“ sind daher sehr ausgeprägt.

Die schwindende Solidarität in Deutschland mit Israel, die übersteigerte Kritik am jüdischen Staat und die zunehmende Enttabuisierung im sozialen Diskurs führen zu einem wachsenden Antisemitismus.

Es ist daher überfällig, dass sich Politik und Gesellschaft mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Der Unabhängige Expertenkreis hat hier ein großes Defizit benannt.

Es war daher auch ein sehr wichtiger Schritt, dass die Forderung des Zentralrats der Juden nach einem Antisemitismusbeauftragten umgesetzt wurde. Diese Forderung fand sich auch in den Empfehlungen des Expertenkreises. Und ebenso ist es sehr zu begrüßen, dass auf Länderebene auch Beauftragte berufen wurden bzw. noch berufen werden sollen. Bayern war unter den ersten Bundesländern, die einen Beauftragten für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus ernannt haben. Und mit Herrn Dr. Spaenle wurde dafür, wie ich meine, eine hochkompetente Persönlichkeit gefunden.

Ohne Partner auf Länderebene ist vieles im Kampf gegen Antisemitismus gar nicht umsetzbar. Zwei Bereiche, die wir meines Erachtens vorrangig angehen sollten, möchte ich näher beleuchten.

Zum einen eine bessere Erfassung antisemitischer Vorfälle. Ich wurde vor kurzem damit zitiert, ich fordere eine Meldepflicht. Das will ich hier richtigstellen. Vermutlich hatte ich mich missverständlich ausgedrückt. Eine Meldepflicht bei antisemitischen Vorfällen halte ich für Schulen für erwägenswert.

Ohne große bürokratische Hürden muss es Schulen ermöglicht werden, Antisemitismus melden zu können.

Und das Ergebnis darf dann nicht sein, dass diese Schule öffentlich an den Pranger gestellt und ihr Versagen vorgeworfen wird. Sondern ebenso unbürokratische Hilfe sollte das Ziel sein.

Insgesamt aber geht es mir um ein anderes Meldesystem. Wir brauchen ein niedrigschwelliges System, das es zum einen den Betroffenen leicht macht, einen Vorfall zu melden, und das zum anderen auch Taten erfasst, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen. Denn nur dann werden wir ein Bild erhalten, das der Realität einigermaßen entspricht. Und nur dann können wir auch gezielte Gegenmaßnahmen entwickeln.

Ich denke, hier in Bayern könnte das über die jüdischen Gemeinden laufen, in denen Vorfälle gemeldet werden, die dann an eine zentrale Stelle übermittelt werden.

Das sagt sich natürlich leichter, als es umzusetzen ist. Die Antisemitismusbeauftragten in Bund und Ländern haben aber eine bessere Möglichkeit, an dieser Aufgabe kontinuierlich zu arbeiten, als dies bislang Ministerien hatten.

Die Schulen, meine sehr geehrten Damen und Herren, nehmen bei der Bekämpfung des Antisemitismus eine Schlüsselrolle ein.

In jüngster Zeit sind mehrere Fälle von antisemitischen Übergriffen auf Schüler bekannt geworden. Und Sie wissen das so gut wie ich: Was bekannt wird, ist nur ein Bruchteil. Es gibt kaum jüdische Schüler auf staatlichen Schulen, die noch nicht Antisemitismus am eigenen Leib erfahren haben. Übrigens nicht nur durch Mitschüler, sondern manchmal auch durch Lehrer. Und sicherlich nicht immer böswillig, sondern mitunter einfach durch eine Unbedachtheit oder mangelnde Sensibilität. Das macht die Sache unterm Strich allerdings nicht besser.

Der Zentralrat der Juden hat daher eine Kooperation mit der Kultusministerkonferenz begonnen, um die Lehrerfortbildung und die Lehrmaterialien zu verbessern. Und wir haben ein Begegnungsprogramm in Schulen mit jüdischen und nicht-jüdischen Jugendlichen gestartet.

Zum Bereich der Bildung zählen meines Erachtens beim Kampf gegen Antisemitismus auch die Integrationskurse und die Arbeit mit Flüchtlingen.

Die politische Debatte über die Verteilung der Flüchtlinge in Europa und die Fragen der Grenzsicherung sollte uns nicht die Frage der Integration der Flüchtlinge vergessen lassen. Es leben viele Menschen aus anderen Kulturkreisen in Deutschland, die sicherlich viele Jahre, wenn nicht für immer hier bleiben werden. Nicht wenige unter ihnen sind mit einer Feindschaft zu Israel und zu Juden generell groß geworden. Auch ihre Einstellungen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau oder zu Homosexualität sind häufig gänzlich anders als es unserem Wertekodex entspricht. Ihnen müssen wir unsere Werte vermitteln!

Daher sind Projekte der bayerischen Staatsregierung wie „ReThink“ und „ReStart“ auch so wichtig. Sie werden darüber in einem Workshop ja noch ausführlich sprechen.

Sehr geehrte Tagungsteilnehmer, meine Damen und Herren, die Sorgen der jüdischen Gemeinschaft, die uns schon eine ganze Weile umtreiben, finden inzwischen – so ist mein Eindruck – ein breiteres Echo. Wir haben jetzt politisch und gesellschaftlich die Chance, im Kampf gegen den Antisemitismus wirklich voranzukommen.

So sieht es mir auch danach aus, dass die Empfehlungen des Unabhängigen Expertenkreises vom vergangenen Jahr nicht einfach in der Schublade verschwinden. So ist es nämlich dem Vorgängergremium mit seinem Bericht ergangen.

Das Thema Antisemitismus ist nicht durch einen solchen Bericht erledigt und kann zu den Akten gelegt werden. Leider ist es nicht so, dass Antisemitismus wie eine Akte verstaubt und in Vergessenheit gerät. Er erledigt sich nicht von selbst. Wir müssen aktiv für eine Gesellschaft arbeiten, in der es weder Antisemitismus noch Rassismus gibt, in der Minderheiten geschützt und respektiert sind und in der die Verbrechen und die Opfer der Schoa nicht vergessen werden.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, die meisten von Ihnen haben beruflich mit dieser Thematik zu tun. Sicherlich gibt es in Ihrem Berufsleben auch manchmal Momente, in denen Sie zweifeln oder zu verzweifeln drohen. In denen Sie sich fragen, ob Ihr ganzes Bemühen eigentlich einen Sinn hat.

Immer wieder gibt es Ereignisse, nach denen wir uns zurückgeworfen fühlen. Wo es schwer ist, nicht zu resignieren. Doch Ihnen sei versichert: Ihre Arbeit ist so wertvoll! Ohne Menschen wie Sie, die auf wissenschaftlicher Ebene oder pädagogisch oder als Sozialarbeiter für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gegen Ausgrenzung kämpfen, sähe es in unserem Land ganz anders aus.

Und dass wir Juden mehrheitlich sagen können, dass wir gerne in Deutschland leben und uns hier sicher fühlen, das liegt nicht nur an der Polizei und der hohen Politik. Das liegt auch an Menschen wie Ihnen. Lassen Sie uns deshalb an einem Strang ziehen!

Der Unabhängige Expertenkreis kam zu dem alarmierenden Schluss, dass „antisemitische Einstellungen nach wie vor in der Bevölkerung in nennenswertem Ausmaß verbreitet (sind), so dass hier latent vorhandene, kulturell tief verwurzelte Ressentiments unter Umständen auch wieder aktiviert werden können.“

Leider muss ich feststellen: Die Ressentiments können nicht nur unter Umständen wieder aktiviert werden. Sie sind in vielen Fällen bereits wieder aktiviert. Daher ist es höchste Zeit zu handeln, gemeinsam!

Ich danke Ihnen!

25.7.2018, München

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