Erinnerung gehört zu unserer Identität



Wenn heutzutage irgendwo auf der Welt eine Katastrophe passiert, erfahren wir das häufig nur wenige Minuten später. Unser Smartphone summt, und egal, ob wir uns gerade beim Frühstück, bei der Arbeit oder auf einem Spaziergang befinden, sind wir via Push-Meldung über das Grauen informiert. Live-Ticker auf Online-Portalen sorgen dafür, dass wir die Folgen von Orkanen, von Flugzeugabstürzen oder Terror-Anschlägen fast in Echtzeit miterleben.

Kein Mensch ist jedoch dafür gemacht, ständig mit Katastrophen konfrontiert zu werden. Deshalb reagieren viele von uns ähnlich: Wir schalten ab. Vielleicht nicht im Wortsinn, so dass wir tatsächlich offline gehen, aber im übertragenen Sinne. Wir nehmen die Nachrichten nicht mehr wirklich auf. Wir verdrängen sie. Denn anders meinen wir es nicht aushalten zu können. Vergessen und Verdrängen sind damit zum konstitutiven Bestandteil unserer vernetzten Welt geworden, zum Überlebensrezept.

Vergessen ist jedoch kein Ausweg. Das lehrt uns die Bibel. Und gerade an Pessach machen wir uns bewusst, dass genau das Gegenteil, das Erinnern unsere jüdische Identität ausmacht. „Das jüdische Fest verlangt von uns stets mehr als nur pflichtgemäßes und emotionsfreies Gedenken vergangener Ereignisse“, wie Rabbiner Joel Berger einmal schrieb. Sondern Knechtschaft und Befreiung müssten für jeden von uns erfahrbar und aufs Neue erlebbar bleiben.  

Daher nehmen wir diese Erinnerung auch sinnlich wahr: das Bitterkraut und die in Salzwasser getauchten Eier lassen die Erinnerung an schlechte Tage lebendig werden. Die Erinnerung an schlechte Zeiten auszublenden, wäre ganz und gar unjüdisch. Denn nur wer bereit ist, sich auch diese Erfahrungen zu vergegenwärtigen, erkennt die Bedeutung der Befreiung aus der Sklaverei. Erkennt die Bedeutung der Befreiung aus den Lagern. Diese Erinnerung lähmt uns nicht, sondern befreit zum Handeln und zum Leben.

Die Erinnerung an die Schoa gehört nicht nur zur jüdischen Identität, sie gehört zur deutschen Identität insgesamt. In einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Universität Bielefeld im Auftrag der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ stimmten 88 Prozent der Befragten ganz oder teilweise der Aussage zu, zur Zugehörigkeit zu Deutschland gehöre Wissen über die NS-Geschichte.

Die AfD aber versucht uns einzureden, Deutschland übertreibe es mit der Erinnerung an die NS-Verbrechen. Hier werde ein Schuldkomplex kultiviert. Die Partei suggeriert, die Mehrheit der Bevölkerung leide darunter.

Wenn wir noch einmal die Umfrage der Uni Bielefeld heranziehen, stellt sich zwar heraus, dass 25 Prozent der Befragten angaben, es sei Zeit für einen Schlussstrich. Das ist erschreckend viel. Aber die Mehrheit ist das nicht. Die Mehrheit leidet aber auch offensichtlich nicht unter einem Schuldkomplex. 69 Prozent verneinten die Frage, ob unter ihren Vorfahren Täter des Zweiten Weltkriegs gewesen seien. Vielleicht leidet Deutschland eher unter einem Unschuld-Komplex?

Es wird deutlich: Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende ist intensive Aufklärungs- und Bildungsarbeit notwendig, um einen realistischen und in vielen deutschen Familien selbstkritischen Blick auf die NS-Zeit wachzuhalten. Mit wachsender zeitlicher Distanz ist es nicht verwunderlich, dass die Auseinandersetzung abnimmt. Umso mehr sind wir alle gefordert.

Das Gleiche gilt für Europa. Die Wahlen in Italien haben erneut verdeutlicht, dass die nationalen Egoismen in Europa wachsen. Ob Ungarn mit seiner Abschottung gegen Flüchtlinge oder Polen mit seinem neuen Holocaust-Gesetz – überall sind die Tendenzen der Abgrenzung unübersehbar. Auch hier scheint das Vergessen um sich zu greifen.

Übersteigerter Nationalismus führte in den Ersten Weltkrieg. Chauvinismus und eine Kultivierung des Gegeneinanders führten unter anderem in die Abgründe des Zweiten Weltkriegs. Auf blutgetränktem Boden, auf einem völlig zerrütteten Kontinent bauten die Gründerstaaten die Europäische Gemeinschaft auf. Diese Geschichte darf nicht vergessen werden. Die Erinnerung an die beiden Weltkriege gehört zur europäischen Identität. Sie müssen wir um der Einheit Europas willen, ja um des Friedens willen, bewahren.

Als Richard von Weizsäcker 1985 in seiner berühmten Rede den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ einstufte, löste er damit heftige Diskussionen aus. Er rührte an ein Tabu. Doch die Bewertung durch den damaligen Bundespräsidenten wurde zum Konsens in der Bundesrepublik. Mittlerweile versuchen politische Kräfte von rechts außen, an diesem Konsens zu rütteln.

 

Daher sei eine Passage aus der Rede zum 8. Mai zitiert: „Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß.“

 

Nur wer sich an unsere Geschichte erinnert, versteht diesen Appell wirklich. Er ist heute aktueller denn je.

 

In diesem Sinne wünsche ich allen Juden weltweit ein frohes und friedliches Pessach-Fest. Pessach Kascher we-Sameach!

 

Dr. Josef Schuster

 

 

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