"Die Geschichte ist der Kompass für die Zukunft"



Foto: Thomas Lohnes

Grußwort des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Mark Dainow, beim Festakt zum 70-jährigen Bestehen der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden und zum 50. Jahrestag der Einweihung der Synagoge, Wiesbaden, 11.9.2016

Anrede,

wer in dieser Synagoge sitzt, kommt nicht umhin, die wunderbaren Glasfenster zu bewundern. Bei der Einweihung vor heute genau 50 Jahren staunten alle über dieses Schmuckstück, das neu in Wiesbaden entstanden war. Und bis heute zieht diese Synagoge ihre Besucher in Bann.

Ich selbst bekomme ohnehin immer eine wohlige Gänsehaut, wenn ich hier bin. Denn hier haben meine Frau und ich vor fast 40 Jahren geheiratet. Sie werden sich daher vorstellen können, wie gerne ich der Einladung der Jüdischen Gemeinde gefolgt bin, für den Zentralrat der Juden bei diesem Festakt zu sprechen.

Doch keine Sorge: Ich werde jetzt weder über die Ehe philosophieren oder gar Geheimnisse aus meiner Ehe ausplaudern, noch werde ich sentimental in Erinnerungen schwelgen.

Die Geschichte und die Tradition der jüdischen Gemeinde Wiesbaden möchte ich aber sehr wohl in den Blick nehmen. Denn diese Geschichte bildet das Fundament dieser starken Gemeinde. Trotz des Bruchs der Shoa, trotz der fast völligen Vernichtung der Gemeinde durch die Nazis. Diese Geschichte und Tradition ist der Kompass der Gemeinde für die Zukunft.

Wir sind glücklich, heute das 70-jährige Bestehen der Gemeinde und den 50. Jahrestag der Einweihung dieser Synagoge feiern zu können.

Uns allen ist aber auch bewusst, dass die jüdische Geschichte in Wiesbaden viel länger zurückreicht. Schon im 14. Jahrhundert gab es Juden in Wiesbaden. Eine nennenswerte Größe erreichte die Gemeinde im 18. Jahrhundert. Und nur am Rande sei erwähnt: Zutritt zu den Badehäusern hatten die Juden damals nicht. Sie mussten ihre eigenen Badehäuser errichten.

Wir feiern heute die Wiederbelebung, die Neugründung der Gemeinde nach dem Krieg und denken dabei in tiefer Dankbarkeit an die US-Armee/US-Army, die die damaligen wenigen Überlebenden ermutigte und es ihnen ermöglichte, die Gemeinde neu zu gründen. Dankbar und voller Respekt denken wir auch an die Gründungsmitglieder. Sie hatten die Verfolgung und die Lager überlebt. Die meisten hatten ihre Familienangehörigen in der Shoa verloren.

Nicht verloren hatten sie jedoch ihren Mut und ihre Zuversicht. Sie ahnten damals nicht, dass sie das Fundament für ein neues blühendes jüdisches Leben in Deutschland legten. Doch 70 Jahre später können wir sagen: Genau das haben sie getan!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

dieser Ort, an dem wir uns gerade befinden, spiegelt wie kaum ein anderer die wechselvolle jüdische Geschichte dieser Stadt wider. Ende des 19. Jahrhunderts gründete sich hier die Alt-Israelitische Kultusgemeinde mit eigener Synagoge, die sich abgrenzen wollte von der Reformgemeinde mit der prächtigen Synagoge am Michelsberg. In der Pogromnacht 1938 zerstörten die Nazis die Synagoge am Michelsberg komplett. In der Synagoge hier in der Friedrichstraße konnten sie nicht ganz so wüten, weil sonst die Häuser in der Nachbarschaft mit abgebrannt wären. Aber sie schändeten natürlich auch diese Synagoge.

Und schließlich war der Innenhof vor der Synagoge der Sammelpunkt, wo die Wiesbadener Juden sich einfinden mussten, bevor sie deportiert wurden. Auch die Sinti und Roma aus Wiesbaden wurden von hier aus zu den Deportationszügen nach Auschwitz gebracht. Diesen Teil der Geschichte werden wir nie vergessen. Auch heute, an diesem freudigen Tag, gedenken wir der 1.500 Wiesbadener Juden, die in der Shoa ermordet wurden.

Nach der Neugründung der Gemeinde 1946 wuchs die jüdische Gemeinschaft in Wiesbaden langsam wieder. 1949 waren es schon 300 Mitglieder. Und so war es auch ein richtiger Schritt, in den 1960er Jahren den Neubau einer Synagoge an diesem historischen Ort ins Auge zu fassen.

Der Neubau einer Synagoge ist bis heute keine Selbstverständlichkeit. Das galt erst recht in den sechziger Jahren. Eine neue Synagoge ist sowohl ein Zeichen des Vertrauens als auch ein Zeichen des Willkommens. Eine jüdische Gemeinde, die den Mut fasst, eine neue Synagoge zu bauen, sagt damit: Wir vertrauen dem Land, in dem wir leben. Wir vertrauen darauf, dass wir hier eine Zukunft haben. Wir möchten in diesem Land bleiben. Eine neue Synagoge ist wie eine Hand, die zur Versöhnung ausgestreckt wird. Ein größeres Kompliment, als eine Synagoge zu bauen, können wir Deutschland kaum machen!

Eine neue Synagoge ist zugleich ein Zeichen des Willkommens.Ein Zeichen des Willkommens durch die Stadt und ihre Bürger. Denn ohne die Unterstützung der Kommune und oft auch des jeweiligen Bundeslandes, ohne die Unterstützung durch Spenden wäre ein Synagogen-Neubau in der Regel unmöglich.

Hier in der Friedrichstraße erhielt die jüdische Gemeinde Wiesbaden mit der Synagoge ein neues Zentrum. Und auch für die Stadt ist dieser Ort eine Bereicherung des kulturellen und religiösen Lebens. Regelmäßig öffnet die Gemeinde beim Tag der offenen Tür die Pforten, um allen Wiesbadenern nicht nur die beeindruckende Architektur und Kunst zu zeigen, sondern vor allem, um Wissen über das Judentum zu vermitteln. Das ist gerade heutzutage so wichtig, wo sich so viele Religionen und religiöse Richtungen wie nie zuvor in Deutschland finden. Und leider kämpfen wir noch immer mit antisemitischen Vorurteilen, die die Jahrhunderte überdauert haben.

Die Jüdische Gemeinde Wiesbaden ist für die Politik, die Kirchen sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen der Stadt ein wichtiger Partner. Sie bezieht Position und ist offen für neue Ideen. Diese fruchtbare Zusammenarbeit zeigt sich am besten im Jüdischen Lehrhaus, das vor drei Jahren eröffnet wurde. In der Tradition des früheren Lehrhauses und im Geist von Martin Buber und Franz Rosenzweig finden hier hochinteressante Veranstaltungen statt.

Martin Buber hat einmal gesagt: „Wenn wir uns auf Begegnungen nicht mehr einlassen, verlieren wir einen entscheidenden Bestandteil unseres Lebens. Es ist so, als würden wir aufhören zu atmen.“ Wir, die jüdische Gemeinschaft, sind immer offen für neue Begegnungen. Und wir hoffen, dass auch die Menschen, denen wir begegnen, offen sind für uns.

Ich danke Ihnen!

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