Herr Schuster, fühlt man sich als bekennenderJude inzwischen in Deutschland nicht mehr sicher?
Josef Schuster:
In arabisch-muslimisch geprägten Stadtvierteln vermeiden es Juden schon seit längerem, sich als Juden zu erkennen zu geben. Wenn
es jetzt auch in bürgerlichen Stadtvierteln wie in Berlin Prenzlauer Berg solche Angriffe und Gewalt gibt, ist das erschütternd.
Da hat sich eine rote Linie verschoben. Wir müssen alles dafür tun, dem entgegenzuwirken, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht mehr passiert. Ich
gehe davon aus, dass der Täter jetzt mit der ganzen Härte des Gesetzes konfrontiert wird. Kaum ein Tag mehr ohne Meldungen über antisemitische Straftaten und Gewalt.
Wie dramatisch ist die Entwicklung inzwischen?
Schuster:
Fakt ist, dass mehr antisemitische Vorfälle registriert werden. Zugleich herrscht aber heute auch eine höhere Sensibilität, und es sind mehr
Menschen bereit, solche Fälle zu artikulieren und anzuzeigen. Das ist gut und richtig. Die Betroffenen haben leider zu lange aus falscher Scham heraus geschwiegen
und sich nicht artikuliert. Wir müssen ein niedrigschwelliges Meldeverfahren entwickeln, damit Menschen, die antisemitische Erfahrungen gemacht
haben, diese auch anzeigen können, ohne sich direkt an die Polizei wenden zu müssen. Da besteht immer noch eine gewisse Hemmschwelle. Das Gros der antisemitischen
Straftaten wird als rechtsextremistische Gewalt registriert. Hier müssen wir genauer hinschauen und differenzieren.Wir prüfen jetzt etwa in Bayern, ob wir ein Meldesystem in den
jüdischen Gemeinden einrichten können. Die Anzeigen und Nachrichten könnten dann an eine Institution weitergegeben und gegebenenfalls verfolgt werden. Bei akuter Bedrohung ist natürlich
die Polizei gefordert und die 110 die richtige Nummer. Der neue Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung sagt, Judenhass wird oft mitgebracht. Hat sich das Problem durch den Flüchtlingsstrom verschärft?
Schuster:
Es hat sich verändert. Der jüngste Fall in Berlin zeigt, dass aus Kreisen von Migranten Antisemitismus, der mitgebracht wurde oder hier in die Wiege gelegt wurde, inzwischen auch
frei gelebt wird. Wir müssen aber differenzieren. Nicht alle Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, sind Antisemiten. Es gibt Zuwanderer, die antisemitische
Ressentiments mitbringen. Hier gilt es, sehr schnell und sehr konsequent zu reagieren. Das ist Aufgabe der Integrationspolitik, vor allem auch der Moscheegemeinden und Muslimischen
Verbände, die bei uns gültigen Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens unzweifelhaft und klar zu vermitteln. Nach der Echo-Verleihung an Künstler mit antisemitischen Texten regte sich erst langsam Protest. Braucht es nicht mehr Einsatz und Courage?
Schuster:
Im Fall der Echo-Verleihung fehlte es zunächst völlig an Sensibilität. Das ist ein Symptom. Von einem breiten Teil der Gesellschaft werden das Problem und die Gefahr des Antisemitismus
nicht erkannt. Hier herrscht der Eindruck vor, das gehe nur Juden etwas an. Judenfeindlichkeit ist ein Beleg dafür, dass etwas in der demokratischen Struktur nicht stimmt. Das ist ein Problem
für die gesamte Gesellschaft.
Das Interview führte Andreas Herholz