Anrede,
das Thema der heutigen Veranstaltung klingt – vorsichtig ausgedrückt – ambitioniert: Antisemitismus in Deutschland und Europa – Herausforderungen und Lösungen.
Die Herausforderungen, vor die uns ein grassierender Antisemitismus heute stellt, sind sicher noch zahlreicher als die Lösungsvorschläge – wenn es überhaupt „Lösungen“ für ein jahrtausendealtes Phänomen wie den Antisemitismus gibt.
Der rechte Antisemitismus - ob aus dem national-konservativen, dem rechtspopulistischen und auch rechtsextremen Milieu - scheint vor dem zu beobachtenden Angriff von rechts auf die Demokratien Europas besonders bedrohlich. Er wendet sich nicht nur gegen Minderheiten, sondern stellt einen fundamentalen Angriff auf ein liberales und plurales Verständnis von Demokratie dar. Ich kann mich manchmal nicht des Eindrucks erwehren, dass noch nicht alle verstanden haben, wie groß die daraus resultierenden Gefahren für unseren Rechtsstaat und die Demokratien Europas sind.
Neben dem klassischen Antisemitismus von rechts und zunehmend von links stellt uns zudem der Antisemitismus unter Muslimen vor große Herausforderungen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der notwendigen wertegebundenen Integration derjenigen Menschen, die aus Krieg und Terror zu uns geflohen sind.
Sich bei der Benennung dieser Probleme gegen rechte Volksverhetzer abzugrenzen, bleibt ebenso die Aufgabe aller Demokraten, wie in den Blick zu nehmen, dass Muslime derzeit häufig selbst Ziele der Antidemokraten von rechts außen sind.
Meine Damen und Herren, zu Recht nimmt die heutige Veranstaltung auch Europa in den Blick. In Zeiten der Globalisierung kann sich der Kampf gegen Antisemitismus nicht auf nationale Grenzen beschränken. Und in Europa liegt beim Thema Antisemitismus einiges im Argen. Zwei Problemkreise, die uns auf europäischer Ebene massive Kopfschmerzen bereiten und die ich hier erwähnen will, sind z.B. der Kampf gegen Hate Speech im Internet und die europaweit zu beobachtenden Versuche, das koschere Schächten oder die Beschneidung zu verbieten.
Und diese Gefahren sind aktueller und bedrohlicher denn je. Derzeit wird in Island ein Beschneidungsverbot diskutiert. Es mutet fast absurd an, dass ein Land, in dem wohl weniger als 100 Juden leben, ein Beschneidungsverbot diskutiert. Und dennoch hätte ein solches Verbot in Island Strahlkraft auf die anderen europäischen Länder.
Um es klar zu sagen: Wer die Religionsfreiheit einschränken will, indem er das koschere Schächten oder die Beschneidung verbieten will, der will fundamentale Gebote des Judentums außer Kraft setzen und jüdisches Leben unmöglich machen. Eine staatlich verordnete Ausgrenzung von Juden. Europa 2018. Das können wir, das kann kein Demokrat einfach so hinnehmen!
Gleichermaßen inakzeptabel ist es, wenn jüdische Kinder auf Schulhöfen gemobbt, angriffen oder beleidigt werden. Wenn in Deutschland Israelfahnen verbrannt werden, wenn Juden geraten wird, in bestimmten Bezirken keine religiösen Symbole mehr zu tragen, dann, meine Damen und Herren, ist eine absolute Schmerzgrenze nicht nur erreicht, sondern schon überschritten. Dann ist auch die Zeit wohlmeinender Absichtserklärungen endgültig vorbei.
Auch eigene Fluchterfahrungen oder der Nahostkonflikt können keine Legitimation für Israelhass oder israelbezogenen Antisemitismus sein. Dabei gilt es im Blick zu haben, dass israelbezogener Antisemitismus kein Problem ist, das nur in muslimischen Communities existiert. Dennoch gilt: muslimische Communities müssen den Kampf gegen Antisemitismus in ihren Reihen glaubwürdig und nachhaltig aufnehmen und zu ihrer ureigenen Angelegenheit machen.
Für jede Form von Antisemitismus muss nicht nur gelten: Null Toleranz – sondern muss entschieden und zeitnah gehandelt werden.
Und es ist ja beileibe nicht so, dass es keine Konzepte für den Kampf gegen Antisemitismus gibt. Im Gegenteil. Es gibt eine Vielzahl von Projekten, Studien und Strategien gegen Antisemitismus und zwar sogar sehr erfolgreiche!
Ich erwähne hier nur exemplarisch die hervorragende Arbeit des Kompetenzzentrums der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) gegen Antisemitismus, ich erwähne die Arbeit der Bildungsstätte Anne-Frank, die des AJC, der Amadeu-Antonio-Stiftung. Ich erwähne die wichtige Arbeit der Recherche- und Informationsstelle RIAS. Ich erwähne in aller Bescheidenheit das Schülerbegegnungsprojekt Likrat des Zentralrats der Juden in Deutschland. Und ich könnte die Liste endlos weiterführen.
Nein –an hervorragenden Ideen, Projekten, Studien und Arbeitskreisen mangelt es nun wirklich nicht.
Meiner Ansicht nach mangelt es aber immer noch an der wirklichen Einsicht der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft, dass das Problem Antisemitismus kein Problem der jüdischen Minderheit ist – sondern ein genuines Problem der Gesamtgesellschaft. Denn nur, wer sich wirklich betroffen fühlt, der handelt auch, meine Damen und Herren. Das erwarten wir von der Politik, von der Zivilgesellschaft und von jedem einzelnen Bürger in diesem Land: zu handeln!
Es ist deshalb ein wichtiges Zeichen, dass die Bundesregierung einen Beauftragten für Jüdisches Leben in Deutschland und gegen Antisemitismus benannt hat. Wir haben gemeinsam mit anderen lange dafür gekämpft. Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird alles tun, um Dr. Felix Klein sowie die Beauftragten der Länder in ihrer wichtigen Aufgabe zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, wir sehen überall in Europa rechtspopulistische Bewegungen wie Pilze aus dem Boden sprießen. Tagtäglich werden wir zeugen davon, wie diese Bewegungen sich Stück für Stück in die politische Mitte voran arbeiten. Nicht selten biedern sie sich dabei auf perfide Weise an die Jüdische Gemeinschaft an.
Deshalb liegt es mir abschließend am Herzen, an dieser Stelle in aller Klarheit zu sagen: Wer einen Wolfgang Gedeon in den eigenen Reihen duldet, ist kein Gesprächspartner für die Jüdische Gemeinschaft. Wer von Beendigung des sog. „Schuldkultes“ redet, von „Umvolkung“ schwadroniert und gegen Minderheiten hetzt, ist kein Partner für die Jüdische Gemeinschaft, auch wenn perfider Weise noch so viele Israelfahnen auf Pegida- oder sonstigen Demonstrationen geschwenkt werden.
Wir Juden stehen in Deutschland für unsere gemeinsamen Werte, den Rechtsstaat, für Religionsfreiheit, für eine offene demokratische Gesellschaft. Wir stehen für den Schutz von Minderheiten und wir stehen an der Seite derer, die angegriffen werden.
Noch mal: Antisemitismus ist kein jüdisches Problem. Antisemiten haben in aller Regel auch ein Problem mit dem demokratischen Rechtsstaat. Wem die freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie am Herzen liegt und wer auch künftig in einem Land leben will, in dem die Würde des Menschen unantastbar ist, der sollte sich heute gegen Antisemitismus engagieren, damit er morgen nicht böse erwacht.
Berlin am 16. April 2018