74. Jahrestags der Befreiung des KZ Dachau



Ansprache des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Dr. Josef Schuster, bei der Gedenkfeier anlässlich des 74. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, am 5. Mai 2019 in Dachau

Anrede,

Am 29. April 1945 – also vor 74 Jahren – befreite die US-Armee das Hauptlager von Dachau. Für die wenigen noch lebenden Lagerinsassen war dies ein unendlich lange ersehnter Tag, ein Ereignis, an das kaum noch jemand geglaubt hatte.

Das Ende der Leiden war es für meisten Überlebenden jedoch nicht. Die Mehrzahl von ihnen war nicht nur völlig entkräftet und unterernährt, sondern schwer krank und durch Folter und Misshandlung insgesamt massiv geschädigt.

Es grassierten Typhus und Fleckfieber. Im Mai 1945 mussten täglich noch 100 bis 300 Tote bestattet werden. Insgesamt erlagen nach der Befreiung noch 2.300 Menschen ihrer Schwäche und Krankheit.

Hinzu kamen die seelischen Leiden, die die meisten der ehemaligen Häftlinge ihr Leben lang nicht mehr verließen.

Dennoch bezeichnen viele Überlebende die Befreiung als ihre zweite Geburt. Sie waren der Hölle entkommen. Sie durften wieder ein Dasein führen, das den Namen „Leben“ verdiente.

Den alliierten Truppen im Zweiten Weltkrieg gebührt daher für alle Tage unser Dank für den Sieg über die Nazi-Diktatur.

Und ich bin sehr glücklich, dass auch heute wieder Überlebende des KZ Dachau unter uns sind. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen, für Ihre Bereitschaft, Zeugnis abzulegen, und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute!

Heute gedenken wir der mehr als 40.000 Menschen, die in Dachau ermordet wurden. Wir gedenken all der Opfer, die hier gelitten haben.

Meine verehrten Damen und Herren, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand das Grundgesetz. Die Verabschiedung jährt sich in diesem Jahr zum 70. Mal. Ich halte das Grundgesetz für eine Errungenschaft, die wir gar nicht hoch genug schätzen können. Es entstand buchstäblich auf den Trümmern des Deutschen Reiches.

Die Mütter und Väter der bundesdeutschen Verfassung zogen die Lehren aus den Nazi-Gräueltaten. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und ihren Schutz setzten sie unumstößlich an den Anfang.

Nie wieder sollte es in Deutschland möglich sein, Menschen – mit welcher Begründung auch immer  - ihre Würde abzusprechen. Nie wieder sollte Menschen ihr Recht auf Leben aberkannt werden können.

Nie wieder sollten Juden ermordet werden, weil sie Juden sind.

Nie wieder behinderte Menschen, weil sie behindert sind.

Nie wieder homosexuelle Menschen, weil sie homosexuell sind.

Und nie wieder der Sohn eines Kriminellen oder die Tochter eines Obdachlosen, weil sie Sohn oder Tochter sind.

Ebenso wurden im Grundgesetz die Meinungs-, die Glaubens- und Gewissensfreiheit an vordere Stelle gesetzt.

Denn die Nationalsozialisten hatten zuerst ihre politischen Gegner mundtot gemacht. Wer es dann noch wagte, Widerstand zu leisten, war schnell isoliert und brauchte sehr, sehr viel Rückgrat. Verrat lauerte überall, denn weite Teile der deutschen Bevölkerung stellten sich bereitwillig in den Dienst der Nazis.

Diese Geschichte hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor Augen, als sie den Grundrechtskatalog schufen. Ihre Klugheit muss man bis heute bewundern.

Dennoch sollte sich Deutschland zum Jubiläum des Grundgesetzes selbstkritisch fragen: Gelten unsere Grundrechte im Alltag uneingeschränkt? Ist die Aufarbeitung der NS-Zeit wirklich rundum gelungen? Pflegen wir eine Erinnerungskultur, mit der wir zufrieden sein können?

Meine Damen und Herren, diese Fragen würde ich nicht mehr mit einem uneingeschränkten Ja beantworten.

Es wird zunehmend klar, dass sich jede Generation wieder neu die demokratischen Werte erarbeiten und mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen muss. Das ist kein Selbstläufer.

Und klar ist auch: Wir müssen unsere bisherige Erinnerungskultur sicherlich an neue Gegebenheiten anpassen. Doch wir müssen sie auch bewahren und stärken und gegen jede Tendenz vorgehen, die NS-Zeit zu verharmlosen.

Vor kurzem haben die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und das Bielefelder Institut für Konfliktforschung eine gemeinsame Studie veröffentlicht. Darin wurde nach der Aufarbeitung der Nazi-Zeit gefragt.

Die Ergebnisse sind sehr widersprüchlich und in der Grundtendenz beunruhigend. Einerseits gibt es ein erfreuliches Interesse an diesem Kapitel der deutschen Geschichte. So gaben 58 Prozent der Befragten an, sich aus eigener Initiative mit der NS-Geschichte befasst zu haben. Auslöser waren unter anderem Besuche in KZ-Gedenkstätten. Fast jeder Zweite hatte bereits eine Gedenkstätte besucht, die meisten von ihnen mit der Schule. Das bestätigt meine Forderung, KZ-Gedenkstättenbesuche in die Lehrpläne der Schulen aufzunehmen.

Andererseits findet offenbar kaum noch eine Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in der eigenen Familie statt. Die Hälfte der Befragten gab an, in der eigenen Familie nie oder nur selten darüber zu sprechen. Ebenso ging die Hälfte davon aus, dass ihre Familienmitglieder nicht zu den Mitläufern des NS-Systems gehörten. Stattdessen definierten viele ihre Angehörigen, die zu den Vertriebenen oder zivilen Opfern des Krieges gehörten, als NS-Opfer.

Was passiert hier also?

In der Erinnerungskultur findet eine Verschiebung statt: Immer mehr sehen sich in der Nachfolge der Opfer des NS-Regimes, nicht auf der Seite der Täter.

Den historischen Tatsachen entspricht dies in keiner Weise.

Hier sehen wir, wie wichtig eine gute pädagogische Begleitung des Themas ist. Sowohl in der Schule als auch in den Gedenkstätten muss jungen Leuten auch vermittelt werden, wie so viele Hunderttausende Menschen zu Tätern werden konnten. Täter, die auch unter ihren Angehörigen zu finden waren. Diese Tatsachen müssen so vermittelt werden, dass junge Menschen nicht den Eindruck bekommen, sie sollten sich schuldig fühlen.

Niemand der Nachgeborenen trägt Schuld. Doch das Bewusstsein, dass ganz normale Menschen, Familienväter und –mütter, ja, vielleicht die eigene Großmutter oder der eigene Großvater zu Tätern wurden, dieses Wissen kann zu einem hohen Verantwortungsbewusstsein und zu Empathie mit den Opfern führen.

Das war stets das Ziel der bundesdeutschen Gedenkkultur. Daran müssen wir festhalten.

Denn, meine Damen und Herren, wir erleben gerade nicht nur eine Diskursverschiebung in der Erinnerungskultur, sondern auch den wachsenden Einfluss von Rechtspopulisten und Nationalisten in unserem Land und in Europa. Diesen politischen Kräften kommt es sehr zupass, wenn das Verantwortungsbewusstsein sinkt und immer mehr Menschen sich einen Schlussstrich wünschen. In der erwähnten Studie waren es 33 Prozent, die der Meinung waren, es sei jetzt mal genug mit der Beschäftigung mit der NS-Zeit. Das waren sieben Prozent mehr als bei einer Vorgängerbefragung ein Jahr zuvor.

Die Rechtspopulisten verharmlosen und relativieren die NS-Zeit, um jetzt mit ähnlichen Instrumenten zu agieren. Sie propagieren ethnisch homogene Nationen, in denen Minderheiten keinen Platz haben. Dabei scheuen einzelnen Politiker nicht einmal davor zurück, das gleiche Vokabular wie die Nazis zu benutzen. Und es ist erschreckend, dass ihre perfide Propaganda bei nicht wenigen Menschen verfängt.

Und so müssen wir Neonazi-Aufmärsche erleben, wie vor wenigen Tagen am 1. Mai im sächsischen Plauen. Es waren Bilder, die übelste Erinnerungen hervorriefen an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.

Meine Damen und Herren,

es darf nicht sein, dass Deutschland im Jahr 2019 solche Bilder produziert! Hier haben die Versammlungsbehörden nicht ihre rechtlichen Spielräume genutzt, um einen solchen martialischen Aufmarsch zu verhindern. Doch gerade angesichts des wachsenden Rechtspopulismus ist es wichtiger denn je klare Kante gegen Rechtsextremismus zu zeigen!

 

Und das gilt auch in Europa!

Die bevorstehende Europa-Wahl halte ich daher für eine der wichtigsten, seit wir ein Europaparlament wählen. Den nationalistischen Alleingängen muss ebenso ein Riegel vorgeschoben werden wie dem wachsenden Antisemitismus. Daher appelliere ich an alle Bürger, wählen zu gehen und europafreundlichen Parteien ihre Stimme zu geben.

Dank der Europäischen Union ist aus diesem blutgetränkten Kontinent ein Hort des Friedens und übrigens auch des Wohlstands geworden. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen!

In vielen europäischen Ländern stehen Juden einem wachsenden Antisemitismus gegenüber, der zum Teil von einzelnen Parteien oder sogar der Regierung geschürt wird. Europa driftet nach rechts. Das ist keine gute Entwicklung.

Wenn wir über Gedenkkultur sprechen, müssen wir daher eigentlich auch die europäische Gedenkkultur in den Blick nehmen. Das würde jetzt in diesem Rahmen zu weit führen.

Doch ein paar Gedanken, meine sehr geehrte Damen und Herren, möchte ich noch anfügen.

Je weniger wir auf die authentischen Erinnerungen der Zeitzeugen zurückgreifen können, desto größer wird die Bedeutung der Gedenkstätten. Sie stehen vor einer immensen Herausforderung.

Erfreulicherweise steigen die Besucherzahlen. Ich nenne beispielhaft ein paar Zahlen: Hier in Dachau wird seit zehn Jahren ein stetig steigendes Besucherinteresse registriert. 2017 informierten sich rund  800.000 Menschen über die Vergangenheit. Damit ist die Gedenkstätte Dachau nach dem Schloss Neuschwanstein die meistbesuchte staatliche Einrichtung in Bayern, berichtete die „Süddeutsche Zeitung“.

In der Gedenkstätte Flossenbürg stiegen seit Eröffnung der  Dauerausstellung die Besucherzahlen von 64.000 auf derzeit rund 90.000 im Jahr.

Die Gedenkstätte Sachsenhausen in der Nähe von Berlin vermeldete 2007 rund 350.000 Besucher. Zehn Jahre später waren es etwa doppelt so viele.

Viele Gedenkstätten-Leiter berichten in jüngster Zeit, dass häufig Besucher angesichts des wachsenden Rechtspopulismus in Deutschland beunruhigt seien und auch aus diesem Grund die Gedenkstätten aufsuchten.

Zugleich gibt es allerdings zunehmend Berichte über Besuchergruppen oder einzelne Besucher, die bei Führungen die Zahl der Opfer in Frage stellen oder andere relativierende Äußerungen machen.

Es ist eine dreifache Herausforderung, vor der die Gedenkstätten stehen:

Die Zahl der Besucher steigt, die pädagogische Betreuung der Besucher muss intensiviert werden und die Gedenkstätten brauchen neue Konzepte, um dem wachsenden zeitlichen Abstand zum Geschehen sowie dem veränderten Medienkonsum und damit veränderten Gewohnheiten bei den Besuchern gerecht zu werden.

Das alles erfordert mehr finanzielle Unterstützung für die Gedenkstätten.

Es ist daher sehr erfreulich, dass die Bundesregierung das Programm „Jugend erinnert“ aufgelegt hat, das ein Volumen von 17 Millionen Euro bis 2020 umfasst. In den nächsten zwei Jahren sollen unter anderem außerschulische Gedenkstättenfahrten für rund 10.000 Jugendliche gefördert werden.

Daneben wird Geld für Begegnungen von Jugendlichen aus Deutschland, Israel und Osteuropa sowie für die Lehrerausbildung und die Erprobung von digitalen Zugängen zu historischen Informationen bereitgestellt.

Dieser Schritt der Bundesregierung ist sehr zu begrüßen. Ich gehe jedoch davon aus, dass wir im kommenden Jahrzehnt insgesamt deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müssen, damit die Gedenkstätten die genannten Herausforderungen bewältigen können.

Ich möchte jetzt die leidige Diskussion über die Kostenexplosion für das Museum am Obersalzberg nicht vertiefen. Festzuhalten bleibt aber: Vorrang in der Finanzierung von Gedenkstätten durch Bund und Länder sollten immer die Orte haben, wo Menschen gelitten haben und gestorben sind. Kurz: Wo vor allem der Opfer gedacht wird.

Die Arbeit der Gedenkstätten ist unersetzlich. Wenn wir das bereits Erreichte in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und in unserer Erinnerungskultur bewahren wollen, sollte uns das jede Mühe wert sein. Ich appelliere an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die umfassende Unterstützung der Gedenkstätten für die kommenden Jahrzehnte zu sichern.

Es geht hierbei um weit mehr als Erinnerungskultur. Es geht um Demokratieerziehung.

Hier, an diesen Orten des Grauens, wird sichtbar, was Menschen anderen Menschen antun können.

Hier begreifen wir, warum die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Unantastbarkeit der Menschenwürde an die erste Stelle gesetzt haben.

Wer sich über die Gedenkstätten und Zeitzeugenberichte intensiv mit dem Nationalsozialismus befasst hat, wird sich auch heute aus Überzeugung für unsere demokratischen Grundrechte einsetzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Konzentrationslager Dachau wurden 41.500 Menschen ermordet. Dieses KZ existierte am längsten von allen, die kompletten zwölf Jahre der Hitler-Diktatur. Hier wurden viele politische Gefangene, vor allem aber Tausende von Juden umgebracht. Allein nach den Novemberpogromen von 1938 wurden 11.000 Juden nach Dachau deportiert. Noch 1944 verschleppte die SS 35.000 Juden nach Dachau und in seine Außenlager. Sehr viele überlebten die Qualen nicht. Insgesamt waren im KZ Dachau mehr als 200.000 Menschen aus 34 Staaten inhaftiert.

Sie, liebe Überlebende, wissen, was diese Zahlen tatsächlich bedeuten. Wir Nachgeborenen können uns nur ansatzweise vorstellen, wie es gewesen ist.

Wir verneigen uns heute, 74 Jahre nach der Befreiung, in Trauer und Respekt vor den Opfern.

Wir werden sie nie vergessen.

Ich danke Ihnen!

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