Anrede,
Zuallererst möchte ich ganz besonders herzlich die ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Flossenbürg begrüßen!
Sie haben es auf sich aufgenommen, an den Ort Ihres unendlichen Leidens zurückzukehren, um gemeinsam mit uns all der Tausenden Menschen zu gedenken, die in Flossenbürg ermordet wurden.
Sie sind an diesen Ort zurückgekehrt, den sie ungewollt immer in sich tragen. Sie setzen sich direkt den Erinnerungen aus, die Sie nie verlassen haben.
Sie vermitteln uns wie niemand sonst, was hier geschehen ist.
Und Sie geben uns wie niemand sonst den Auftrag, dafür zu kämpfen, dass Menschen so etwas nie wieder angetan wird.
Ich danke Ihnen daher von ganzem Herzen, dass Sie hier sind, und wünsche Ihnen alles erdenklich Gute!
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Flossenbürg ist eine der ältesten und eine der jüngsten KZ-Gedenkstätten zugleich. Ehemalige Häftlinge errichteten hier direkt nach dem Krieg, 1946, einen kleinen Gedenkort.
Doch sonst war niemand am Gedenken interessiert. Man ließ buchstäblich Gras über die Sache wachsen. Was bedeutete das? Das bedeutete, dass rund 100.000 Menschen aus 47 Nationen, die in Flossenbürg und seinen Außenlagern inhaftiert waren, in Vergessenheit gerieten. Auch der rund 30.000 Toten wurde nicht in angemessener Weise gedacht.
Erst nach 50 Jahren und dank des Engagements von ehemaligen Häftlingen sowie von Ihnen, lieber Herr Skriebeleit, begann die Aufarbeitung der Verbrechen im KZ Flossenbürg. 2007 konnte endlich die Dauerausstellung eröffnet werden. Mehr als 60 Jahre waren seit der Befreiung durch die Amerikaner vergangen, bis hier in Flossenbürg würdig der Opfer gedacht werden konnte. In einigen früheren Außenlagern des KZ, wie etwa in Hersbruck, dauerte es noch länger. In Flossenbürg warten wir zudem noch darauf, dass die Nutzung des Steinbruchs ausläuft und auch dieser einstige Ort des Grauens und tausendfachen Sterbens zum Gedenkort wird.
Denn wir brauchen diese Gedenkorte!
Zum einen schulden wir es den Opfern, dass diese Orte, die auch zu Friedhöfen wurden, in würdiger Form erhalten bleiben. Gerade weil in der Schoa Millionen von Menschen zur Nummer degradiert wurden und kein eigenes Grab erhielten, haben es die Opfer verdient, dass an sie wenigstens in ihrer Gesamtheit erinnert wird. Da, wo sich Einzelschicksale rekonstruieren lassen, leisten die Gedenkstätten dies mit akribischer Forschung – auch Yad Vashem will ich an dieser Stelle nennen – so dass den Menschen wenigstens posthum ihre Würde zurückgegeben wird.
Und ebenso schulden wir es den Überlebenden, die Gedenkstätten zu erhalten. Wie oft mussten sie es nach dem Krieg erleben, dass niemand ihre Geschichte hören wollte. Wie häufig haben sie erlebt, dass Täter ihre Verbrechen leugneten oder sehr schnell wieder auf freien Fuß kamen.
Die Darstellung der ganzen Geschichte in den Gedenkstätten ist daher auch für die Überlebenden ein wichtiger Beitrag, um inneren Frieden zu finden. Denn wie hat es der Flossenbürg-Überlebende Jack Terry einmal formuliert:
„Es ist eine Wunde, die niemals heilt.“
Zum zweiten nimmt die Bedeutung der Gedenkstätten kontinuierlich zu. Denn immer weniger Zeitzeugen sind aufgrund ihres hohen Alters in der Lage, zum Beispiel Schulklassen ihre Geschichte zu erzählen. Die authentischste Möglichkeit, sich mit dem Nationalsozialismus zu befassen, wird daher immer seltener.
Doch wie können gerade junge Menschen an dieses Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte so herangeführt werden, dass sie Empathie mit den Opfern entwickeln?
Ich halte Gedenkstättenbesuche hier für den besten Weg und bin froh, dass wir dies in bayerischen Gymnasien seit langem praktizieren. Andere Bundesländer folgen mittlerweile unserem Beispiel. So hat gerade das rheinland-pfälzische Bildungsministerium ein Konzept für Schülerbesuche in Gedenkstätten erarbeitet, das ab dem nächsten Schuljahr umgesetzt werden soll. Dabei soll auch eine intensive Auseinandersetzung mit den NS-Tätern stattfinden, was ich für einen sehr sinnvollen Ansatz halte. Und ebenso wichtig erscheint mir, dass Gedenkstättenbesuche auch in der Lehrerausbildung vorgesehen sind.
Und die Bundesregierung hat das Programm „Jugend erinnert“ gestartet, in dessen Rahmen in diesem und im nächsten Jahr 10.000 Jugendliche Fahrten zu Gedenkstätten machen können.
Dieser pädagogische Ansatz ist sehr zu begrüßen, allerdings, meine Damen und Herren, müssen die Gedenkstätten natürlich auch in die Lage versetzt werden, die steigenden Besucherzahlen bewältigen zu können.
Das bedeutet nicht nur, dass sie eine entsprechende räumliche Infrastruktur schaffen müssen, sondern auch gut geschultes pädagogisches Personal sowie pädagogische Konzepte benötigen, um die Konfrontation der Besucher mit den Orten der Verbrechen angemessen begleiten zu können.
Nun will ich bei dieser Gedenkfeier die leidige Diskussion über die Kostenexplosion für das Museum am Obersalzberg nicht vertiefen.
Festzuhalten bleibt aber: Vorrang in der Finanzierung von Gedenkstätten durch Bund und Länder sollten immer die Orte haben, wo Menschen gelitten haben und gestorben sind. Kurz: Wo vor allem der Opfer gedacht wird.
Gerade in den ostdeutschen, finanzschwächeren Bundesländern kämpfen einige Gedenkstätten mit einer mangelnden Finanzierung bei wachsenden Besucherzahlen. Hier steht der Bund in der Pflicht, die Gedenkstätten stärker finanziell zu unterstützen.
Eigentlich muss man den Sinn und Zweck von Gedenkstätten angesichts der bedenklichen politischen Entwicklung unserer Gesellschaft nicht näher erläutern. Dass eine Partei, die den Nationalsozialismus verharmlost und die NS-Verbrechen relativiert, in Deutschland in alle Parlamente gewählt wurde, spricht für sich. Allein diese Tatsache schreit eigentlich nach einer intensiveren Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.
Doch ich will noch auf einen weiteren Aspekt eingehen: die Migrationsgesellschaft.
Gerade wegen der wachsenden Heterogenität unserer Gesellschaft halte ich die Arbeit der Gedenkstätten in zweierlei Hinsicht für notwendiger denn je:
Zum einen wegen des wachsenden Antisemitismus, wegen der Ressentiments gegen Juden, die wieder unverblümter geäußert werden. Ressentiments, die zu einem gewissen Teil auch von arabischstämmigen Migranten gepflegt werden. Zum anderen wegen der Vorurteile gegenüber Muslimen und Ausländern, unter denen Menschen mit Migrationshintergrund leiden.
Wir müssen insgesamt die Menschen stärker sensibilisieren für Fragen wie religiöse Toleranz, Minderheitenschutz und Achtung vor anderen Kulturen. Wir müssen zeigen und erklären, wohin es führen kann, wenn eine bestimmte Gruppe abgewertet, diskriminiert und schließlich verfolgt wird.
Denn es ist traurige Realität in Deutschland, dass sich die Zahl antisemitischer Vorfälle deutlich erhöht hat. Auch der Antiziganismus wächst. Und der Anschlag vor kurzem auf die Moscheen im neuseeländischen Christchurch hat uns das Thema Islamfeindlichkeit wieder ins Bewusstsein gerufen.
Natürlich können wir die Bekämpfung all dieser Phänomene nicht allein den Gedenkstätten aufhalsen. In der Bildungs- und Erinnerungsarbeit stellen sie aber einen sehr wichtigen Baustein dar. Besucher werden hier wie kaum an einem anderen Ort dafür sensibilisiert, was Achtung der Menschenwürde bedeutet und was passiert bei totaler Missachtung, ja Negierung der Menschenwürde.
Daher tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung dafür, die Erinnerung weiterzutragen und uns für den Schutz der Menschenwürde einzusetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir feiern in diesem Jahr 70 Jahre Grundgesetz. Unsere Verfassung war in einem Deutschland, das buchstäblich, vor allem aber moralisch in Trümmern lag, die Antwort auf die Verbrechen Deutschlands. Vor diesem Hintergrund wurde die Menschenwürde im ersten Artikel zementiert. Und vor diesem Hintergrund wurden Grundrechte wie die Religions- und Gewissensfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Pressefreiheit festgeschrieben.
Die Bundesrepublik hat damals, völlig unverdient, eine unglaubliche zweite Chance bekommen. Das Land, das einen verbrecherischen Angriffskrieg und einen Genozid mit Millionen von Toten zu verantworten hatte, erhielt die Chance, ein demokratischer Rechtsstaat zu werden, später auch noch eingebettet in die Europäische Gemeinschaft.
Und auch wenn uns heute einiges nachdenklich stimmt, können wir sagen: Deutschland hat seine Chance gut genutzt. Es sind eine gefestigte Demokratie und ein funktionierender Rechtsstaat entstanden, die ihren Minderheiten wirksamen Schutz gewährleisten.
Das war und ist auch die Basis, auf der die jüdische Gemeinschaft in Deutschland von Neuem entstehen konnte. Die heutige jüngere Generation von Juden betrachtet Deutschland ganz selbstverständlich als ihr Zuhause – selbst wenn ihre Eltern noch aus einem Nachfolgestaat der Sowjetunion eingewandert waren.
Sie wollen dieses Land mitgestalten und sind bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Liebe Überlebende, meine Damen und Herren,
Sachor – das Gebot des Erinnerns, das im Judentum gilt, werden wir auch stets von der nicht-jüdischen Gesellschaft einfordern. Bei uns haben die jungen Leute bereits den Staffelstab übernommen. Sie tragen die Flamme der Erinnerung weiter. Und ich bin zuversichtlich, dass uns das auch im nicht-jüdischen Teil der Gesellschaft gelingen wird.
Denn für uns alle gilt das Vermächtnis der Überlebenden der deutschen Konzentrationslager von 2009:
Ich zitiere die Schlussworte:
„Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen. Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Naziideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen, eine Welt, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus keinen Platz haben sollen.“
Ich danke Ihnen!