„Alle Islamverbände sollten deutlich mehr gegen Antisemitismus tun“



Interview mit Dr. Josef Schuster, Bild am Sonntag, 23.07.2017

Foto: Fuzz CC0, Pixabay Lizenz
BILD am SONNTAG: Herr Schuster, bald werden die letzten Überlebenden des Holocausts und alle Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs gestorben sein. Was bedeutet das für unser Land?

Es wäre falsch, wenn wir sagen: Die letzten Opfer und Täter leben nicht mehr, jetzt legen wir das ganze Kapitel in die Schublade der Geschichte. Wir sind es sowohl den Opfern als auch den nachfolgenden Generationen schuldig, aus diesem beispiellosen Menschheitsverbrechen die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Diese Lehren haben kein Ablaufdatum.

Welche Rolle nimmt Auschwitz in Zukunft ein?

Auschwitz wird weiterhin eine wichtige Rolle haben, wenn es um die Erinnerung an das Grauen und das Leid geht, ebenso wie die vielen Gedenkstätten in Deutschland. Es wird darum gehen, die Erfahrungen der Opfer auch in Zukunft authentisch wiederzugeben. Es wurde spät, aber zum Glück nicht zu spät damit begonnen, die Stimmen und Geschichten derer zu sammeln und aufzuzeichnen, die gelitten und überlebt haben. Diese Zeugnisse müssen bewahrt und an die nächsten Generationen weitergeben werden.

Immer mehr Menschen in Deutschland haben keinen direkten Bezug zu diesem Teil der deutschen Geschichte. Entweder, weil nicht mal mehr ihre Großeltern die Zeit erlebt haben, oder schlicht weil sie keine deutschen Vorfahren haben. Wie kann da eine Erinnerungskultur gelingen?

Da sind vor allem die Schulen gefragt. Die Schoah und der Zweite Weltkrieg müssen weiterhin einen entsprechenden Raum im Geschichtsunterricht haben. Auch für die Schüler, die keine deutschen Vorfahren haben, ist das von Bedeutung. Ich glaube, dass dieser Teil der deutschen Geschichte zentral für alle sein muss, die hier dauerhaft leben.

Es gibt vermehrt Berichte, dass „Jude“ auf deutschen Schulhöfen als Schimpfwort benutzt wird. Sind das Einzelfälle oder ein verbreitetes Problem?

Dieses Phänomen beobachten wir leider schon seit einigen Jahren und durchaus verbreitet, so dass wir nicht von Einzelfällen sprechen können. Sowohl in Schulen als auch auf Sportplätzen wird ‚Jude‘ als Schimpfwort verwendet. Vor allem unter muslimischen Schülern sind antisemitische Vorurteile weit verbreitet. Es ist uns daher wichtig, dass im Schulunterricht mehr Wissen über das Judentum vermittelt wird, um diesen Vorurteilen entgegenzuwirken.

Was wollen Sie konkret tun?

Wir erarbeiten gerade gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz Materialien für Lehrer, damit sie das Judentum in seiner ganzen religiösen und kulturellen Breite den Schülern nahebringen können. Das Problem des muslimischen Antisemitismus sollte die ganze Gesellschaft sehr ernst nehmen, ohne zugleich alle Muslime unter Generalverdacht zu stellen.

Nehmen Sie die starke Migration aus mehrheitlich muslimischen Ländern als Bedrohung wahr?

Gerade von jüdischer Seite gibt es Verständnis für Menschen, die ihr Land verlassen müssen, weil Leib und Leben bedroht sind. Auf der anderen Seite gibt es eine berechtigte Sorge, wenn zahlreiche Menschen kommen, die mit Israel- und Juden-feindlichen Parolen aufgewachsen sind. Wer ein Leben lang indoktriniert wurde, wirft das nicht an der deutschen Grenze ab. Gegen diese Vorstellungen müssen wir aktiv arbeiten. Die Ablehnung von Antisemitismus und die Anerkennung des Existenzrechts Israels müssen für jeden in Deutschland eine Grundlage des Zusammenlebens sein.

Kann das im Rahmen eines Integrationskurses erreicht werden?

Die Kurse sind ein wichtiger Bestandteil. Daher habe ich mich auch dafür ausgesprochen, dass Geflüchtete im Rahmen der Integrationskurse KZ-Gedenkstätten besuchen. Viel kritischer ist jedoch, was abends nach einem Integrationskurs passiert. Wenn dann arabische Sender geschaut werden, wird viel von der Arbeit am Tag zerstört. Daher sollte es unser Ziel sein, Einwanderer in Vereine und Initiativen einzubeziehen, in denen sie quasi automatisch unsere Werte vermittelt bekommen.

Wird dem muslimischen Antisemitismus durch die Islam-Verbände hierzulande genügend entgegen gewirkt?

Alle islamischen Verbände könnten und sollten deutlich mehr tun. Sie haben bei dem Thema Antisemitismus eine große Verantwortung. Und nicht nur da. Es geht genauso um die Gleichberechtigung von Mann und Frau und um die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen.

Ist es problematisch, wenn Antisemitismus in Deutschland verstärkt als „Import“ angesehen wird?

Antisemitismus gab es lange vor der muslimischen Einwanderung. Der politisch rechte Antisemitismus ist davon genauso unabhängig wie der auf Seiten der extremen Linken. Große Sorgen machen mir die immer größeren Schnittmengen zwischen den verschiedenen Formen des Antisemitismus. Bei Aufrufen zum Boykott israelischer Produkte, beispielsweise, agieren Rechtsextreme zusammen mit Linksextremen radikalen Muslimen und Islamisten.

Gibt es in Deutschland NoGoAreas für Menschen jüdischen Glaubens?

In einigen Bezirken der Großstädte würde ich empfehlen, sich nicht als Jude erkennen zu geben. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das offene Tragen einer Kippa oder einer Halskette mit Davidstern verbale oder körperliche Bedrohungen zur Folge haben kann.

Sie haben kürzlich geschrieben, der israelbezogene Antisemitismus breite sich heute wie eine ansteckende Krankheit aus. Ist die Situation so gefährlich, wie das klingt?

Der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, der vom Bundestag eingesetzt wurde, hat gezeigt, dass inzwischen rund 40 Prozent der Bevölkerung antiisraelische Ressentiments haben.

Wie trennen Sie denn zwischen der Kritik an der Politik der israelischen Regierung und israelbezogenem Antisemitismus?

„Man wird ja wohl noch sagen dürfen“, das hört man heutzutage häufig. Natürlich darf man kritisieren. So laut und deutlich, wie die Politik der israelischen Regierung im Land selbst kritisiert wird, findet man das kaum anderswo. Die Grenze zum Antisemitismus wird dort überschritten, wo die gesamte israelische Bevölkerung für die Politik in Haftung genommen und das sogar noch auf "die Juden" allgemein ausgeweitet wird.

Ist die Lust an Israelkritik hierzulande besonders groß?

Die Lust an der Israelkritik ist in Deutschland zuletzt deutlich größer geworden. Aber sie ist kein deutsches Phänomen. Gerade in Deutschland hat sie jedoch aufgrund der Geschichte einen besonders unangenehmen Beigeschmack.

Wie beurteilen Sie den Umgang der aktuellen Bundesregierung mit Antisemitismus?

Die Einrichtung des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus war richtig. Der Bericht, den der Kreis vorgelegt hat, ist handwerklich und inhaltlich sehr gut. Er zeigt detailliert, wie Internet und soziale Medien verstärkt dazu genutzt werden, antisemitische Hetze zu verbreiten und dass außerdem das Sicherheitsgefühl der hier lebenden Juden nachgelassen hat. Allerdings hat die aktuelle Bundesregierung daraus bislang nicht die nötigen Konsequenzen gezogen.

Was sollte die nächste Bundesregierung auf die Agenda setzen?

Wir brauchen einen Beauftragten zur Bekämpfung von Antisemitismus. Der Beauftragte wäre eine unbürokratische Anlaufstelle für alle Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind und sollte regelmäßig über den Stand der Dinge berichten. Das EU-Parlament hat allen Mitgliedsstaaten empfohlen, einen solchen Beauftragten einzusetzen. Wenn ausgerechnet Deutschland keinen Beauftragten zur Bekämpfung von Antisemitismus benennen würde, wäre das ausgesprochen merkwürdig. 2014 gab es zum Beispiel einen Anschlag auf die Synagoge in Wuppertal, der vor Gericht nicht als antisemitische Tat eingestuft wurde. Das ist nur möglich, weil der Gesetzgeber nicht genau festgelegt hat, was Antisemitismus ist. Das endlich zu tun, ist deshalb ein wichtiger Punkt für die Agenda der nächsten Bundesregierung. In anderen Ländern wie etwa Großbritannien ist dies bereits geschehen.

Wie beurteilen Sie die AfD?

Die AfD ist eine rechtspopulistische Partei, deren oberstes Feindbild derzeit die muslimische Bevölkerung ist. Ich habe aber das Gefühl, dass die AfD keine Hemmungen hätte, auch gegen jüdische Menschen zu hetzen, wenn es opportun wäre. Ich sehe bislang nicht, dass die Partei Willens oder in der Lage ist, gegen offen antisemitische Ausfälle von Mitgliedern oder Funktionären entschieden vorzugehen. Die Forderung des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke nach einer „180-Grad-Wende“ in der Erinnerungskultur sagt doch viel aus über das Geschichtsbewusstsein zumindest eines Teils der AfD.

Die AfD sieht sich selbst als Verteidiger des jüdischen Lebens in Deutschland. Weil sie sich gegen eine Islamisierung stelle...

Wenn das jüdische Leben in Deutschland der Verteidigung durch die AfD bedürfte, hätte ich längst gesagt, alle Juden sollen Deutschland verlassen. Dann wäre ein jüdisches Leben hier nur schwer vorstellbar.

Wenn wir ein paar Jahre in die Zukunft schauen: Wie sehen Sie das jüdische Leben in Deutschland?

Mit der Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion vor rund 25 Jahren sind die jüdischen Gemeinden stark gewachsen. Viele dieser Menschen, insbesondere die junge Generation, sind bereits vollständig integriert. Die ehemaligen Zuwanderer und ihre Kinder sind Garanten dafür, dass sich jüdisches Leben in Deutschland positiv entwickelt. Wir haben heute 105 jüdische Gemeinden. Viele davon werden dauerhaft existieren können. Ich sehe der Entwicklung eines vielfältigen und sichtbaren jüdischen Lebens in Deutschland deshalb sehr positiv entgegen. Vor 30 Jahren hätte ich das so deutlich noch nicht sagen können.

Interview: Sebastian Pfeffer

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